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Forum www.religion-und-spiritualitaet.de    Religion und Spiritualität    Gewalt  ›  Christentum und Gewalt Moderatoren: Weber
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Christentum und Gewalt  Dieses Thema wurde bisher 6.791 mal gelesen. Thema ausdrucken Thema ausdrucken
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Sardy
23 November 2005, 14:52 Einem Moderator melden Einem Moderator melden
26 - 50 Beiträge
Beiträge: 30
Christentum und Gewalt
(Der Tod Jesu als „Experimentum Crucis“)


Gewalt beherrscht die Welt

Blicken wir unbefangen um uns herum, sehen wir unter den Menschen überall Gewalt. Betrachtet man auch die rücksichtslose Ausnutzung wirtschaftlicher Macht als Gewaltanwendung, scheint die Gewalt eine Art „Grundgesetz“ menschlichen Verhaltens zu sein, das uns unsere evolutionäre Vergangenheit hinterlassen hat. Der Mensch ist allerdings kein einsam jagendes Raubtier, das zum Überleben zwar ohne Rücksicht auf Andere das Notwendige nimmt, aber dann gesättigt ist. Der Mensch ist ein soziales Wesen, das nur im Verband mit anderen Menschen überleben kann. Er hat allerdings einen Verstand, der ihm unvorstellbare Möglichkeiten der Weltbeherrschung eröffnet. Und er hat dazu nicht nur einen Magen, wie ein Raubtier, sondern Wünsche, die keine Grenzen kennen.

Die Probleme unserer Zeit zeigen immer eindrücklicher, dass das in der Tierwelt ausreichende „Raubtierparadigma“ als Leitlinie für unser Verhalten für die Zukunft nichts Gutes verspricht. Ich verzichte hier darauf, die krisenhafte Situation der heutigen Menschheit näher zu beschreiben, dessen Elemente durch die Stichworte Überbevölkerung, Knappheit der Ressourcen und Vorhandensein von Massenvernichtungswaffen allgemein bekannt sind. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass die ständig wachsenden Probleme uns immer mehr einem kritischen Punkt zutreiben, wo – dramatisch gesagt – über Leben oder Tod der Menschheit entschieden wird. Es drängt sich die Frage auf: Muss das „Grundgesetz der Gewalt“ das Schicksal der Spezies Mensch besiegeln?

Ich möchte die Frage hier darauf konzentrieren, welchen Beitrag das Christentum zur Festigung oder zur Überwindung der Vorherrschaft der Gewalt geleistet hat bzw. in der Zukunft noch leisten könnte. Dabei möchte ich weder ein abschließendes Urteil fällen, noch sichere Rezepte für eine „Rettung der Welt“ anbieten, sondern mich darauf beschränken, zum Nachdenken anzuregen.

Der christliche Glaube wird meist durch das Symbol des Kreuzes dargestellt, das aber für sehr vielfältige Deutungen offen ist. Es wird aber im Zusammenhang mit der Frage der Gewalt entscheidend sein, was wir vom Kreuzestod Jesu halten: War dieser Tod (eine extrem grausame Hinrichtung!) ein Werk Gottes oder ein Verbrechen von gewaltbesessenen Menschen? Daran entscheidet sich, ob der christliche „Glaube“ lediglich das Selbstbewusstsein einer „kleinen Herde“ im Auge hat, oder auf das Wohl der ganzen Menschheit (und damit der ganzen Biosphäre!) ausgerichtet ist. An dieser Frage entscheidet sich auch die Qualität der Gottesbilder einzelner christlicher Gruppen oder Kirchen: ob sie den wirklichen Schöpfer des Lebens meinen, oder nur die Projektion von menschlichen Wünschen und Befindlichkeiten, einen „Gott“, der für menschliche Zwecke dienstbar gemacht worden ist.

Das Experiment der Gewaltlosigkeit

Erinnern wir uns kurz daran, dass der Glaube an einen einzigen Gott (Monotheismus) aus dem Glauben an den kriegerischen Schutzgott des Volkes Israel entstanden ist. Dieser Glaube hatte von Anfang an eine „staatstragende“ Funktion, was natürlich eine positive Wertung der Staatsgewalt einschließen musste. Wir können hier nur kurz andeuten, dass das Wort Gewalt keinen eindeutigen Begriff bezeichnet, weil der Zusammenhalt (und damit das Überleben) einer menschlichen Gruppe seit Urzeiten ohne Gewalt nicht denkbar war. Gewalt ist nicht nur eine Art „Ursünde“, sondern ein konstitutives Element menschlicher Gesellschaften, und zwar in einer Polarität: einmal als die für die Gemeinschaft notwendige „ordnende Gewalt“, aber auch als diese Gemeinschaft gefährdende „zerstörerische Gewalt“, die (als animalische Erbschaft) unter Menschen immer eine zu beherrschende Realität bleiben wird. Es war von Anfang an eine notwendige Funktion der Religion, im Interesse des Lebens ein Gleichgewicht dieser beiden Arten der Gewalt zu sichern.

Das Bild Gottes, das uns die Bibel zeigt, wurde deshalb vom Bild eines menschlichen Herrschers bestimmt, der auf seine Ehre eifersüchtig bedacht und immer bereit war, seinen Willen durchzusetzen und seine Feinde mit Gewalt niederzuwerfen. Der Gott Israels hatte zwar „nach innen“, für seine Auserwählten, eine gütige Seite und versprach seine Treue für den Fall, dass das Volk seinem „Bund“ die Treue hält; er blieb aber immer der unerbittliche Herr, nicht nur nach außen gegen die Feinde, sondern auch nach innen, gegenüber „untreuen“ Untertanen.

In der Bewertung der Gewalt geschah in dieser Religion einmal ein großes Experiment: es trat einmal ein „Prophet“ auf, Jesus, der in einer Weise von Gott redete, wie es bisher nicht bekannt war. Er nannte ihn „Abba“ („Vater“) und ermunterte die Menschen, dem bisher gefürchteten, im Grunde unberechenbaren und unzugänglichen Gott grenzenlos zu vertrauen und ihn im Gebet vertrauensvoll sogar mit „Papa“ anzureden. Hier nur kurz zusammengefasst: Das Gottesbild Jesu war deshalb wesentlich neu, weil sein „Vater im Himmel“ alle Aspekte der Gewalttätigkeit völlig vermissen ließ; er behandelte alle Menschen, Gute wie Böse, gleich. – Konnte eine solche Vorstellung den Härtetest des realen Lebens bestehen?

Um den Ernst und die Konsequenzen seiner Gotteslehre zu zeigen, forderte Jesus seine Hörer sogar auf, auch ihrerseits auf jegliche Gewalt zu verzichten. Auch als er in Jerusalem begeistert empfangen und gleichsam als Messias proklamiert wurde, hat er diese Chance nicht ergriffen, um die „Macht zu übernehmen“. Seinen totalen Gewaltverzicht hat er am Ende sogar mit dem eigenen Tod besiegelt. In seiner Botschaft der Gewaltlosigkeit und in der widerstandslosen Annahme seiner Hinrichtung sehe ich das alles entscheidende Experiment, das „Experimentum crucis“, das uns in der heutigen Phase der Geschichte vor die Frage stellt, welchen Stellenwert soll (darf) für uns die Gewalt haben.

Das Experiment scheitert

Die Botschaft Jesu von dem gewaltlosen und über jede Grenze hinweg nur liebenden Gott war – gegenüber dem damals allgemein gültigen Bild eines „staatstragenden“ Gottes – zweifellos eine Revolution! Und wie ging diese „theologische Revolution“ Jesu aus? Wie viele andere Revolutionen. Die Herrschenden haben sehr schnell realisiert, dass hier die Gefahr einer „Destabilisierung“ der Grundlagen der Gesellschaft vorlag; sie haben eingegriffen und Jesus zum Schweigen gebracht, denn „es ist besser ... wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht.“ Aus diesem Satz des Wortführers (Joh 11,50) wird klar, dass die Handelnden nur ihre Pflicht getan haben, denn sie konnten gar nicht anders, als die Bewegung Jesu zu stoppen. Das „Experiment des Kreuzes“ hat also – auf den ersten Blick – nur noch einmal und eindrucksvoll die Notwendigkeit der Gewaltanwendung dokumentiert und die Überzeugung weiter gefestigt, dass eine menschliche Gesellschaft ohne strukturelle Gewalt nicht auskommen kann.

Die Niederlage des von Jesus vertretenen Programms der Gewaltlosigkeit wurde dann auch dadurch noch endgültig besiegelt, dass seine Anhänger nach seinem Tod von seiner ursprünglichen Botschaft gänzlich abweichende Akzente setzten. Sie haben allem Anschein nach nicht einmal gemerkt, was für Jesus das entscheidend Wichtige war. Auf jeden Fall haben sie – wie selbstverständlich – an den gewaltsamen Elementen ihrer traditionellen Religion festgehalten. Als sie sich dann als Kirche organisieren mussten, schien es ihnen weder erstrebenswert noch möglich, ein Modell zu verwirklichen, das ohne Gewalt auskam. Paulus fand z. B. nichts dabei, ein Mitglied seiner Gemeinde in Korinth wegen abweichendem Sexualverhalten dem Tod zu übergeben; Petrus hat Ananias und seine Frau psychisch hingerichtet, laut Matthäusevangelium befahl Jesus (der bekanntlich „mit Zöllnern und Sündern aß“) sogar, nicht linientreue Mitglieder „wie Heiden oder Zöllner“ zu exkommunizieren (1Kor 5,1-5; Apg 5,1-11; Mt 18, 15-17; Mk 2,16).

Die soziologisch notwendige, strukturelle Gewalt hatte freilich stets die Tendenz, sich zu verbergen, damit die Menschen mit ihr leben konnten. Zu diesem Zweck blieb auch der jungen Kirche nichts anderes übrig, als das Experiment der Gewaltlosigkeit ihres „Meisters“ so zu definieren, dass es das eingespielte (und bewährte) System der menschlichen Gewaltsamkeit nicht sprengt. Da die Tatsache der Hinrichtung Jesu überhaupt nicht in ihre Vorstellungen passte, war es für sie existenziell wichtig, die „richtige“ Deutung des „Experiments des Kreuzes“ zu finden. Im Neuen Testament haben sie mehrere, verschiedene und miteinander konkurrierende Erklärungsmodelle dafür hinterlassen, tastende Versuche, den Widerspruch zwischen ihren Erwartungen und den Ereignissen aufzuheben. Ich bringe hier nur das extremste, weil es den größten Einfluss auf das christliche Denken hatte, die Deutung des Apostels Paulus, der die „systemkonformste“ Hypothese bieten konnte und damit auch der Sieger geblieben ist.

Die Deutung des Paulus: Jesus ist ein göttliches Opfertier!

Die Antwort des Paulus ist höchst „theologisch“, durch sein Gottesbild bestimmt. Nach seiner Vorstellung stand hinter allen Geschehnissen Gott, der die Gewalt unter den Menschen nicht nur zuließ, sondern auch selber hinter jeder irdischen Gewalt stand (vgl. Röm 13,1-7), so dass man ihn konsequenter Weise sogar als den EINZIG GEWALTTÄTIGEN ansehen konnte. Dieser „Gott“ (als Gottesbild in der Vorstellungswelt der Menschen!) war naturgemäß einer Entwicklung unterworfen, auch in seinem Verhältnis zur Gewalt. In einer sehr frühen Zeit, als er sah, dass „die Erde voller Gewalttat ist“, wusste er noch keine andere Antwort, als die Menschen durch die Sintflut auszurotten; nach der Tat aber fand er sich bald mit der Tatsache ab, dass „das Trachten des Menschen von Jugend an böse ist“ (Gen 6,13; 8,21).

Dieser „Gott“ war auch noch in den Gedanken des Paulus von der menschlichen „Bosheit“ maßlos beleidigt und erzürnt. In unsere Sprache übersetzt kann dies nur heißen, dass die Menschen wegen ihrer Aggressivität Schuldgefühle hatten, die sie dann wieder durch eigene Gewalt zum Schweigen bringen mussten. Es gab dazu einen rituellen Weg, die blutigen Opfer, deren Zweck es war, den „göttlichen Zorn“ zu besänftigen. Es klingt noch ein archaisches und magisches Verständnis des Blutes mit, wenn der Hebräerbrief – wie eine Selbstverständlichkeit – feststellt: „Ohne dass Blut vergossen wird, gibt es keine Vergebung“ (Hebr 9,22). Diese sakralisierte Gewalt diente dazu, den (durch Gewalt bedrohten) gesellschaftlichen Frieden herzustellen und zu sichern. In Paulus´ Vorstellung verband sich die schockierende Hinrichtung Jesu mit dem Gedanken an die tiefe Verletzung der Ehre „Gottes“, die nach einem ausreichend großen und würdigen Opfer verlangte. Ein solches Opfer konnte nur „Gott“ selber besorgen, indem er seinen Sohn Jesus (das „Lamm Gottes“!) zum Sündenbock machte und opfern ließ. Paulus beschrieb seine Spekulation mit diesen Worten: „Gott hat ihn zur Sünde gemacht“, die natürlich den Tod verdient, und „den eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns hingegeben“ (Röm 8,32-34), und zwar für eine exzessiv grausame Hinrichtung. Es dürfte klar sein, dass diese Deutung des Todes Jesu mit dem, was er selbst über Gott verkündet hat, völlig unvereinbar ist!

Diese Hypothese entsprach aber den seelischen Bedürfnissen des Paulus und vieler seiner Zeitgenossen. Sie passte auch sehr gut in die kulturelle Umwelt der Zeit und konnte für die hellenistische Welt eine neue (damals „moderne“) Mysterienreligion begründen, mit einem Mysterienkult, mit Sakramenten als Gnadenmitteln und mit dem dazugehörigen Priesterstand. Diese Opfertheorie konnte mit dem Gottesbild der jüdischen Bibel verbunden werden; sie war nebenbei auch imstande, durch die Festigung des Schuldbewusstseins der Menschen die soziale Stabilität der Gemeinschaft „Kirche“ zu sichern. So konnte sich das Christentum in der Antike schnell ausbreiten.

Diese Deutung des Todes Jesu als Erlösungsopfer hat aber nicht nur Vorteile, sondern auch „Risiken und Nebenwirkungen“. Ungeachtet dessen, was über den „einfachen Menschen“ („Menschensohn“) Jesus und seine Anliegen sonst noch überliefert war, für die christliche Theologie blieb letztlich nur sein Tod von Bedeutung. Alles, was für Jesus selbst wichtig war, was er angestrebt und verkündet hat, musste auf diese Weise eindeutig verblassen. Vor dem Hintergrund dieses großartigen Bildes der Erlösung konnte der bescheidene „wirkliche“ Jesus nur noch als ein eifriger Prediger der Religion Israels erscheinen, der den allmächtigen Gott zwar „Abba“ („Papa“) genannt hat, dessen „Übertreibungen“ aber selbstverständlich mit der übrigen Bibel noch in Einklang zu bringen und deshalb keineswegs wörtlich ernst zu nehmen waren! In der so entstandenen christlichen „Glaubenswelt“ schrumpfte folglich die radikal neue Offenbarung vom grenzenlos liebenden und gewaltlosen Gott zum sympathischen Gottesbild eines Predigers, das gerade noch vertretbar war, aber wegen seiner Einseitigkeit unbedingt ergänzt werden musste. Deshalb haben die ersten christlichen Generationen nicht einmal gemerkt, dass sie in der bald erfolgten Aufzeichnung der Evangelien die Verkündigung Jesu durch zusätzliche Elemente „verbessert“ haben, die mit seinem Gottesbild eigentlich unvereinbar waren.

Eine „nicht-sakrifizielle“ Deutung

Die Idee eines Gottes, der seinen „geliebten Sohn“ erst grausam abschlachten, „opfern“ lassen muss, damit er seiner Zuneigung zu den Menschen nachgeben kann, provoziert die Frage, ob damit nicht bei Gott ein „Bann gebrochen“ werden musste,  damit er  von seiner Unfreiheit zum Lieben erlöst wird! Diese Idee entsprang der Gedankenwelt des Paulus. Sie konnte in die magische und mythische Vorstellungswelt der hellenistischen Antike passen, lässt sich aber heute nicht mehr glaubhaft vertreten. Sie ist auch mit der „frohen Botschaft“ Jesu unverträglich. Wir haben das Recht und die Pflicht, eine andere Deutung zu suchen, die uns heute einleuchten kann, die zu unserem Weltbild passt.

Für mich steht fest, dass unsere Erklärung des Sterbens Jesu nicht mehr auf den uralten Mythos der Opferung eines Sündenbocks zurückgreifen darf. Damit muss sie freilich von manchen Deutungsmustern des Neuen Testaments abweichen. Das ist aber kein Grund zum Misstrauen, denn damit folgen wir nur der deutlichen Opferkritik der Propheten Israels und sind auch in der Gesellschaft Jesu, der gerade wegen seiner Kritik am Opferdienst des Tempels das Todesurteil verdient hat (Mk 11,15-18; 14,58). Der von Jesus verkündete Gott bedurfte überhaupt keines Opfers!

Unsere Deutung, die hier nur skizziert werden kann, wird deshalb keine mythologische, sondern eher historische Elemente zusammenfügen, ausgehend aus den Erkenntnissen der Evangelienforschung. Wir gehen von der Vorstellung eines „Menschensohnes“, eines „einfachen Menschen“ aus, der offenbar nach einer überwältigenden Gotteserfahrung in die Öffentlichkeit ging, um seine „frohe Botschaft“ vom Nahe-Sein Gottes zu verbreiten. Als ein Mensch seiner Zeit musste er diese „gute Nachricht“ mit Bildern übermitteln, die sein Volk verstehen konnte. Es lag damals auf der Hand, dass er von der nahe gekommenen „Gottesherrschaft“ sprach, aber genau so nahe liegend ist es heute, dass wir dieses Wort (dessen Verständnis ein ganzes Studium voraussetzt) nicht als wesentlich betonen, sondern in seiner Botschaft das für uns Wesentliche suchen und es gerade in der Idee eines gewaltlosen Gottes und dessen „Nachahmung“ durch menschliche Gewaltlosigkeit sehen. Seine Botschaft kann man, wenn man sie im großen Zusammenhang der Religionsgeschichte betrachtet, zu Recht als eine „theologische Revolution“ bezeichnen. Um diese noch einmal kurz zu charakterisieren: Jesus sah in Gott nur die „unbegrenzte Liebe“, er hatte deshalb keine Verwendung für mythologische Motive der „Macht Gottes“. Er hätte deshalb auch seine eigene Hinrichtung mit Sicherheit nicht als ein „Opfer“ ansehen können.

Wie neu und für die ganze Umgebung wie unfassbar und unverständlich die von Jesus verkündete  Gewaltlosigkeit Gottes war, zeigt am besten das völlig entgegengesetzte Gottesbild des einflussreichsten Apostels Paulus: „Mein ist die Rache, ich werde vergelten – spricht der Herr“ (Röm 12,19). Gott als Rächer von Untaten hatte allem Anschein nach eine so wesentliche gesellschaftliche Funktion, dass die Menschen gar nicht verstehen konnten, welche Tragweite die Worte Jesu überhaupt hatten: „Euer Vater  lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45). Und Jesus wollte gerade in dieser Eigenschaft seinem „Vater“ gleichen. Er hielt offenbar nicht nur jegliche Gewaltanwendung gegen Menschen, sondern sogar auch jegliche Drohung mit der Gewalt Gottes für wenig hilfreich.

Wenn wir dies betonen, müssen wir freilich auch gestehen, dass es sehr schwer ist, uns auch nur vorzustellen, wie gewaltlose Anhänger eines gewaltlosen Gottes in der wirklichen Welt irgendetwas erreichen könnten. Wir können auch die Tatsache nicht übersehen, dass die Lehre Jesu die Menschen auch damals nicht zur Gewaltlosigkeit bewegen konnte, sondern nur den Verdacht der „Hüter der Ordnung“ erregte und ihre Gewalt provozierte, die dann dieser „destabilisierenden Schwärmerei“ ein Ende bereitet haben. Damit ist der tödliche Ausgang des Experiments Jesu für heutige Menschen ausreichend verständlich gemacht, wir brauchen keine weitere Interpretation durch einen Opfermythos. Diese nüchterne Feststellung kann uns allerdings nicht genügen, denn sie erklärt nur das menschliche Scheitern Jesu, womit seine Geschichte aber keineswegs abgeschlossen war. Wir müssen noch weiter suchen, bis es uns aufgeht, was dieses Experiment Jesu für uns heute wert ist. Auf diese Frage werden wir gleich zurückkommen.

Das Dilemma des Gottesbildes

Wir haben soeben zwei gegensätzliche Deutungen des Todes Jesu betrachtet: die „sakrifizielle“ Deutung des Paulus (vom Christentum bedenkenlos übernommen) und eine heutige, „nicht-sakrifizielle“ Deutung (die wir in der Botschaft Jesu wieder erkennen). Wenn man fragt, was diese Deutungen im Wesentlichen unterscheidet, findet man schnell ihre unvereinbar gegensätzlichen Gottesbilder: Paulus kämpfte auf der Grundlage „biblischer“ Gottesbilder mit seinem eigenen Schuldbewusstsein, unsere „nicht-sakrifizielle“ Deutung versucht, die einfache Gottesbotschaft Jesu ungekünstelt anzuwenden. Es sind im Grunde nur diese zwei alternativen Modelle möglich, die sich gegenseitig ausschließen, auch wenn die betreffenden Hypothesen im Einzelnen noch verschieden ausgestaltet werden können. Entweder hält man am „guten alten“ biblischen Gottesbild fest und relativiert damit die Botschaft Jesu, – oder umgekehrt: man nimmt die Botschaft Jesu radikal ernst und relativiert damit die übrigen Gottesbilder der Bibel. Etwas Drittes, ein „Sowohl-als-auch“ als Harmonisierung der beiden, ist logisch nicht möglich.

Das historisch entstandene Christentum hat freilich genau diesen – logisch nicht zulässigen – „dritten Weg“ gewählt. Die Folgen sind heute offensichtlich und für das Christentum nicht schmeichelhaft. Das Gottesbild des „Vaters“, wie Jesus ihn beschrieb, musste in diesem Zusammenhang nur noch als eine wenig realistische Übertreibung erscheinen. Die totale Gewaltverzicht der Bergpredigt wurde aus einer praktischen Anwendung der Gottesbotschaft Jesu zu einem Sonderweg für exzentrische Heiligen, den man eigentlich nicht ganz ernst nehmen konnte. Die Kirche wurde dagegen (im Einklang mit dem überlieferten biblischen Gottesbild und soziologisch durchaus richtig) auf das Prinzip der Macht gebaut. Auch Jesus selbst wurde – gleichsam als Begründung der Herrschaft der Kirche – zum Herrscher stilisiert, der mit der Fülle der Gewalt kommen wird „zu richten die Lebenden und die Toten“. Der so verkündete Gott der Gewalt konnte sich dann „natürlich“ der Gewalt „seiner“ Kirche bedienen, die gegen alle „Abweichler“ gerichtet war, angefangen schon mit dem Auftreten des Paulus, der alle Andersdenkenden verflucht hat (Gal 1,8-9), später durch die Intoleranz der byzantinischen Reichskirche und dann durch die Exzesse der mittelalterlichen Inquisition, die seitdem zwar durch unblutigere Verfahren ersetzt, aber immer noch Zwangsmittel sind. Die „Kirche“ verbündet sich auch bis heute regelmäßig und viel zu leichtfertig mit den politisch und wirtschaftlich Mächtigen dieser Erde. Auf diese Weise ist das Christentum zu einer der gewalttätigsten Religionen der Menschheit geworden.

Das „Experimentum crucis“ enthüllt die Gewalt

Was sagt uns nun das Experiment der Gewaltlosigkeit Jesu heute? – Eine einfache Antwort sollte hier niemand erwarten. Auf jeden Fall steht sein Kreuz an einem entscheidenden Punkt der Entwicklung der Kultur, in der wir leben. Als Christen müssten wir meines Erachtens als Ausgangspunkt unserer Orientierung festhalten: Wir haben einerseits die Fakten der Geschichte ernst zu nehmen, andererseits aber auch das „Aktionsprogramm“ Jesu, seine gewaltlose „frohe Botschaft“, für die er bereit war zu sterben.

Das Experiment der Gewaltlosigkeit Jesu endete am Kreuz. Wenn dieser Jesus durch die geschichtliche Rolle des Christentums in zwei Jahrtausenden schon bedeutsam für die Entwicklung der Menschheit war, wird vielleicht auch sein gewaltsamer Tod als eine Art „Prüfstein“ („Experimentum crucis“) zur Lösung der Gewaltfrage dienen können. Dieser Prüfstein kann uns die wahre Natur der Gewalt aufzeigen, die als Faktor der Evolution ein bleibendes Strukturprinzip menschlicher Gesellschaften ist. Auf die Problematik der Gewalt gibt das Kreuz Jesu eine doppelte Antwort:

Mit seinem Sterben erkennt Jesus die Gewalt als eine Tatsache an, die nun einmal die Welt beherrscht. Den Stellenwert der Gewalt als herrschendes Prinzip lehnt er allerdings ab, indem er sich weigert, die Rolle eines politischen Messias zu übernehmen, um die Gewalt einer fremden Besatzung mit eigener Gewalt zu bekämpfen. Statt dessen erweist er sich „gehorsam bis zum Tod“ und bleibt auf diese Weise mit den Menschen solidarisch, die der Gewalt ohnmächtig ausgeliefert sind. Er bleibt seiner Gewaltlosigkeit treu, auch wenn ihm dies die Hinrichtung einbringt. Damit vermittelt er uns eine weitere Antwort:

Das Sterben Jesu entthront die Gewalt, es nimmt ihr die Faszination, denn Jesus beugt sich nicht der Gewaltandrohung. Er zeigt damit, dass die Gewalt keineswegs „von Gott geheiligt“ ist, sondern ganz in den Verantwortungsbereich der Menschen gehört, die zwar Böses tun können, aber dann auch die Folgen zu tragen haben. Das Kreuz Jesu demonstriert, dass die Gewalt nicht mehr das letzte Wort hat: Gott steht nicht hinter der Gewalt, sondern hinter dem Menschen („seinem Sohn“!), der radikal auf jegliche Gewalt verzichtet. Jesus konnte diese Prüfung bestehen, weil er sicher war, dass mit seinem Tod nicht alles aus ist, dass Gott den Getöteten „bald wieder aufrichtet“. Seinen Glauben haben die Christen festgehalten, wenn sie sagten, dass Gott den getöteten Jesus nach dieser Prüfung „über alle erhöht hat“ (Phil 2,6-11). Diese Erhöhung ist aber bereits geschehen und muss keineswegs – wie die Apokalyptiker es sich vorgestellt haben – eine innerweltlich nur etwas aufgeschobene, dafür aber um so gewaltigere „Retourkutsche“ des „jüngsten Tages“ sein, denn dies wäre wieder nur eine neue Mystifizierung, eine Vergöttlichung der Gewalt. Wie sollte denn Gott die Wunden der menschlichen Gewalt mit einem ultimativen „Endsieg“ seiner Gewalt heilen können?

Das Experiment des Kreuzes ist nicht in dem Sinn entschieden, dass sein Ausgang eindeutig feststellbar wäre. Seine Deutung kann für die Einzelnen, je nach ihrem Standort, verschieden ausfallen. Es gibt Menschen, die für die Worte Jesu nicht zugänglich sind. Sie werden sein Experiment als gescheitert erklären und sagen: In dieser Welt ist auch der edelste Mensch mit seinen besten Absichten zum Scheitern verurteilt; am klügsten ist es noch, „mit dem Strom zu schwimmen“ und eigene Interessen auch mit Gewalt durchzusetzen oder sich wenigstens der fremden Gewalt anzupassen. Es gibt aber auch andere Menschen, die von der Gewaltlosigkeit Jesu überzeugt oder sogar fasziniert sind. Sie halten seinen Tod am Kreuz weder für ein Scheitern noch für das Ende einer Geschichte. Sie sind von seiner Gesinnung „angesteckt“  und bereit, seine Sache weiterzuführen.

Das Experiment Jesu geht weiter

Das als „Kirche“ ziemlich bald errichtete Machtgebilde hat sich leider auf die Seite der Gewalt geschlagen. Seit der Übernahme der Rolle einer Staatskirche im Römischen Reich hat sie die Option sichtbar aufgegeben, für gewaltlose „Kinder“ eines gewaltlosen Gottes zu sprechen. Aber die „amtliche“ Kirche zeigt zu allen Zeiten nur die Oberfläche einer geschichtlichen Strömung. In der Tiefe – und deshalb weniger sichtbar – wirkt das eigentlich Faszinierende am Christentum, das von Anfang an nicht die Organisation, sondern die Botschaft Jesu war. Diese Botschaft wurde von Anfang an von vielen gelebt, immer wieder entfaltet und weitergegeben, denn sie hat Menschen überzeugt und ihnen in allen Widrigkeiten des Lebens Kraft gegeben. So blieb innerhalb der Kirche jederzeit auch das Gottesbild Jesu lebendig und wirksam; es wurde ehrfurchtsvoll überliefert und so zu einem ständigen „Stachel“ des christlichen Denkens. Der Eifer für die Nachfolge Jesu wurde zu einer bleibenden Quelle der Lebendigkeit, – allerdings auch von zahllosen Ideen, die von der offiziellen Kirche als „Irrlehren“ verworfen wurden. Mit der Zeit konnte allein schon die Begeisterung für Jesus der Häresie verdächtig werden, denn die kirchliche Obrigkeit sah sehr schnell ihre Autorität bedroht, wenn jemand den Mut hatte, sich an ihr vorbei unmittelbar auf Jesus zu berufen. So wurde die Sache Jesu, die Nachahmung des gewaltlosen Gottes, immer mehr von der „Organisation Kirche“ entkoppelt. Die konkrete Kirche aber hat ihre Anstrengungen immer mehr darauf konzentriert, den rechten Glauben („Orthodoxie“) notfalls auch durch Unduldsamkeit und Gewalt zu sichern; und als Preis dafür drängte sie den echten Glauben in den Hintergrund, der nichts anderes ist als Sich-Verlassen auf einen Gott, dessen Liebe keine Grenzen kennt.

Der gewaltlose „Sohn Gottes“ hat seine eigene Sendung und auch den Weg, den er anderen empfahl, mit folgenden Worten beschrieben: „Selig, die Frieden stiften (die „Friedfertigen“, die „Gewaltlosen“), denn sie werden Söhne Gottes genannt werden“ (Mt 5,9). Christen vergessen oft zu leicht, dass diese Aussage keineswegs auf Menschen mit dem „richtigem Bekenntnis“ eingeschränkt ist. Im Gegenteil: Jesus betrachtete alle als „Söhne Gottes“, die sich für gewaltfreie Lösungen von Konflikten einsetzen, die also nicht ängstlich fragen, ob eine reale Aussicht besteht, „in dieser Welt“ für den Frieden, für die Umwelt, für unterdrückte oder leidende Menschen usw. irgend etwas zu erreichen. Solche Menschen haben den echten Glauben, den Glauben Abrahams, der nicht irgendwelche „Glaubensartikel“ im Sinne hatte, sondern in einer gänzlich aussichtslosen Situation auf die Erfüllung seiner Sehnsucht hoffte. Der von Jesus verkündete Gott ist nicht nur Schöpfer sondern auch Befreier aus der Knechtschaft jeglicher Gewalt. Wer immer das befreiende Werk dieses Gottes gewaltlos fortsetzt, gehört zu Ihm, ist „sein Sohn“ oder Tochter, ob er dieser „Gotteskindschaft“ bewusst ist oder nicht. Wer mit Jesus auf das Abenteuer der Gewaltlosigkeit einlässt, führt damit sein Experiment weiter und ist zweifellos auf den „Willen“ des gleichen Gottes ausgerichtet (vgl. Mk 3,35).

Das Experiment der Kirche

Das Kreuz als „Experimentum crucis“ ist geeignet, auch das Verhältnis der Kirche zur Gewalt zu klären, das wieder zwei Aspekte hat. Der eine Aspekt zeigt eine Kirche, die nach den Regeln menschlicher Gesellschaften funktionieren muss und deshalb nicht ohne ordnende Gewalt auskommen kann. Eine vollkommen gewaltfrei organisierte Kirche wäre eine Utopie. Sie mit Berufung auf Jesus zu fordern würde nichts weniger bedeuten, als das „Reich Gottes“ mit der Kirche zu verwechseln. Weil Menschen aber sowieso dazu neigen, den eigenen Willen durchzusetzen, müssten die Verantwortlichen der Kirchen ihre Aufmerksamkeit viel stärker dem zweiten Aspekt, der Entthronung und Entzauberung der Gewalt durch das Kreuz Jesu zuwenden: Sie sollten bedenken, dass die Zielvorstellung Jesu, das „Reich Gottes“, sich keineswegs in einer fest organisierten Kirche verkörpern kann, denn die „Herrschaft Gottes“ geschieht überall dort, wo die Menschen durch ihr Verhalten (Lieben ohne Vorbehalt) Töchter und „Söhne Gottes werden“ (Mt 5, 45.48).

Das Experiment des Kreuzes lädt die Christen ein, auf jede Mystifizierung der Gewalt zu verzichten. Sie sollten verinnerlichen, dass die Gewalt in menschlichen Gesellschaften einfach eine biologisch-soziologische Tatsache und keineswegs von „Gottes Gewalt“ abgeleitet ist. Irgendwelche „Stellvertreter“ göttlicher Macht kann es unter Menschen nicht geben! Machthunger und die Nachfolge Jesu („Bergpredigt“) schließen sich auch gegenseitig aus. Die Kirche ist nur Dienerin einer vornehmen Aufgabe, sie hat den Rahmen zu sichern, in dem der Ruf Jesu gehört, gelebt und weitergegeben wird. Und das verträgt sich schlecht mit Gewaltanwendung, auch wenn diese angeblich nur zur Sicherung der „Einheit des Gottesvolkes“ diente. Wer andere mit Machtmitteln zwingt – nicht selten sogar gegen ihr Gewissen – kann sich unmöglich auf eine Legitimation durch Jesus berufen.

Die Verkündigung Jesu hatte nicht die Einheit einer Organisation, sondern die Liebe zum Ziel. Und eine Einheit in der Liebe entsteht nicht durch Bestrafung oder Ausschluss von Widerspenstigen und Irrenden. Wenn es um die Anwendung irgendwelcher (auch „geistlicher“) Gewalt geht, sollte jede Kirchenleitung bedenken, dass sie – soziologisch gesehen – auf der Seite des Hohenpriesters Kajaphas, Jesus aber unter den Ausgeschlossenen (Exkommunizierten) steht. Als solcher wurde er ja ein Opfer der Gewalt, und beileibe nicht als Opfer der Forderung eines gewalttätigen Gottes (wie Paulus es leider missverstanden hat), sondern als Opfer der Verblendung und Gewaltbereitschaft religiöser Führer, die „nur“ die Interessen ihrer Religion vor Augen hatten. Wer diesen Jesus als „Herrn“ bekennt, müsste seine Botschaft der Gewaltlosigkeit so weit verinnerlichen, dass er mit einem Minimum an Gewalt auskommt. Die „Kirche“ müsste sich deshalb – statt an „normalen“ menschlichen Organisationen – verbindlich an dem Leitbild orientieren, das bereits in der ältesten Schrift des Neuen Testaments steht (1Thes 5,19-21):
„Löscht den Geist nicht aus!
Verachtet prophetisches Reden nicht!
Prüft alles, und behaltet das Gute!“.
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