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Forum www.religion-und-spiritualitaet.de    Religion und Spiritualität    Familie  ›  Perspektiven christlicher Familienbilder Moderatoren: Weber
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Perspektiven christlicher Familienbilder  Dieses Thema wurde bisher 6.336 mal gelesen. Thema ausdrucken Thema ausdrucken
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Buerger
29 November 2005, 18:59 Einem Moderator melden Einem Moderator melden
0 - 25 Beiträge
Beiträge: 1
Perspektiven christlicher Familienbilder für Schwule & Lesben – und schwule & lesbische Lebensformen als Erfahrungsfeld für ein christliches Ethos
Beitrag zur Frühjahrstagung der HuK am 4. März 2005 in Kloster Höchst

„Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder?“
Markus-Evangelium 3,33

Ich wünschte, wir könnten zur Einstimmung auf unser Thema gemeinsam den Film FANNY UND ALEXANDER (1982) von Ingmar Bergman ansehen.[1]  Dieses wunderbare Werk spielt zur vorletzten Jahrhundertwende und zeigt uns die großbürgerliche Familie Ekdahl, die das Theater in einer schwedischen Kleinstadt unterhält. In dieser liberalen Großfamilie gibt es mehrere Ehe-Modelle. Ein verheirateter Spross der Familie vergnügt sich zum Beispiel regelmäßig mit dem neuen Dienstmädchen, die hernach schwanger wird. Die Ehefrau dieses wildesten Ekdahl-Sohnes ist darüber nicht im mindesten erbost. Das Dienstmädchen und die von ihm geborenen Zwillinge finden herzliche Aufnahme in die Großfamilie; die unehelichen Babys werden mit Freudentränen begrüßt und im Sinne Bergmans hören wir eine „große Liebeserklärung an das Leben“. – Nicht überall schätzt man um 1900 solche Toleranz, Lebensfreude und Sinnlichkeit. Fanny und Alexander, zwei Kinder aus dem Hause Ekdahl, wechseln nach dem Tod ihres Vaters und der Neuheirat ihrer Mutter in ein ganz anderes Milieu: Sie kommen in das von Gottesfurcht geleitete Haus des Bischofs Vergerus, der nun ihr Stiefvater ist. Dieses Haus ist ein getreues Abbild der damaligen kirchlichen Familienideologie. Es geht streng, rechtschaffen und sittsam zu. In diesem Haus gibt es unerbittliche Regeln und umso mehr Falschheit. Man findet viele hohe Ideale, aber keine Liebe. Die Kinder Fanny und Alexander drohen in den kalten Gemäuern des Bischofssitzes zu erfrieren. Wo nun, so möchte man im Anschluss an das Gleichnis vom barmherzigen Samariter fragen, ist ein Mensch dem anderen ein Nächster: im sinnlich-lebensfrohen Haus der Ekdahls, in dem es drunter und drüber geht, oder in den Gemächern von Bischof Vergerus?

1. Das sogenannte „christliche Familienbild“

Zunächst einmal sollten wir klar stellen, dass es das viel bemühte „christliche Familienbild“ – wenn überhaupt – nur im Plural gibt. Sprechen wir von Bildern, die durch das Leben selbst geboren werden? Oder haben wir es mit selbstgezimmerten Bilderrahmen zu tun, in die man – gegen das biblische Bildmachverbot – etwas Lebendiges einsperren will? Wen oder was meinen wir darüber hinaus mit „christlich“?
Naheliegend wäre ja, sich auf Jesus zu berufen. Ein Fleisch werden Mann und Frau, so zitiert er aus dem 1. Buch der Bibel. Was Gott verbunden hat, das soll der Mensch nicht trennen. Basta! (Gen 2,24; Mt 19,5f) Aber dann entlarvt er noch die selbstgerechtesten Frommen, wenn er ihnen vorhält, dass schon ein begehrlicher Blick – und den kennen sie alle – Ehebruch sein kann (Mt 5,28). Bei der Steinigung einer Ehebrecherin geht er davon aus, dass im Sinn des Ideals keiner ganz mit sich im Reinen ist. Tatsächlich gehen alle fort, die Alten zuerst, und das heißt: diejenigen, die am längsten Zeit hatten, sich selbst kennen zu lernen (Joh 8,3-11). Beim Scheidungsrecht wünscht Jesus vor allem einen Schutz der Frauen vor Willkür (Mt 5,31f; Lk 19,9). – Und dann kommen unverschämte Geringschätzungen der biologischen Familie. Der kath. Patristiker Ernst Dassmann konstatiert: „Es gibt kein Wort Jesu, das den Besitz von Haus, Frau und Kindern preist oder zu biologischer Fruchtbarkeit ermuntert. Dafür gibt es den Lobpreis der Verschnittenen um des Himmelreiches willen (Mt 19,12)“ [2]. Wer ist mir Mutter, Bruder und Schwester? Wer versucht, Gottes Idee vom Leben zu verwirklichen, der ist mir Mutter, Bruder und Schwester (vgl. Mk 3,33-35). Jesus verführt Familienväter, Söhne und Töchter dazu, nicht nur Häuser und Äcker, sondern ihre Familien zu verlassen (Mk 10,29); eine übergroße Anhänglichkeit an die leibliche Familie gilt gar als Hindernis der Nachfolge (Mt 10,35ff). Jesus selbst bleibt offenbar ehelos, was den jüdischen Zeitgenossen unerhört vorkommen muss. Das unter Papst Benedikt XV erst 1912 eingeführte „Fest der Heiligen Familie“ kann sich bestenfalls auf den Vers Lukas 2,51 berufen. Noch am Kreuz, so berichtet ein Evangelist, stiftet Jesus ein Mutter-Sohn-Verhältnis jenseits von Blutsverwandtschaft (Joh 19,26f). Auch die Bande der größeren „Stammesfamilie“ sind kein Grund, stolz zu sein: Gott kann dem Abraham aus Steinen Kinder schenken (Mt 3,9). Die entscheidende Dimension von Kindschaft hat mit männlicher Zeugungsfolge nichts zu tun (Joh 1,13). Im Himmel, so scheint Jesus zu lehren, ist der irdische Ehestand sogar völlig ohne Bedeutung (Mk 12,25; Mt 22,30; vgl. 1 Kor 7,31).

Oder meinen wir mit „christlich“ den ersten nachösterlichen Theologen, den Apostel Paulus? Der sähe es am liebsten, wie im 7. Kapitel des 1. Korintherbriefs nachzulesen ist, dass alle Christen wie er unverheiratet blieben. Die Ehe will er nur als Zugeständnis an die Schwachen, als Zähmungsinstitut gegen die verzehrende Begierde gelten lassen. Kein Sterbenswörtchen bei Paulus von einem heiligen Bund zur Kindererzeugung. Daneben kann man z. B. in dem Paulus nur zugeschriebenen Epheser-Brief (5,24) das Bild der patriarchalischen Familie erkennen: Christus ist Haupt der Kirche, der Mann ist das Haupt der Frau, und die hat sich unterzuordnen. Herrschaft schön von oben nach unten, so wie es der Zeitgeschmack für anständig hielt.
Oder meinen wir das Hohelied der Liebe im so genannten Alten Testament. Da treffen sich zwei Menschen in ihren heimlichen Liebesnestern. Es geht, wie das Lied ausdrücklich beschreibt, ganz poetisch und zuweilen ganz wild-tierisch zu. Von einem Trauschein ist allerdings nicht die Rede.
Oder meinen wir die katholische Perspektive, das heilige Ehe-Sakrament? Das ist erst sehr spät und an letzter Stelle in den engeren Kreis der sieben Sakramente aufgenommen worden. Im ersten Jahrtausend wären viele christliche Eheleute gar nicht auf die Idee gekommen, vor einen Traualtar zu treten. Immerhin hält die katholische Theologie trotz der seit dem 12. Jahrhundert vorgeschriebenen Assistenz eines Geistlichen daran fest, dass wirklich notwendig für den geheiligten Bund nur das Ja-Wort der Partner ist. Allerdings behauptet die Doktrin, selbst eine in Gottes Augen vollständig zerrüttete Beziehung könne ein heiliges Institut sein. Bis 1983 kannte das römische Kirchenrecht in diesem Zusammenhang das Wort Liebe überhaupt nicht. Die Sprache war wie die eines juristischen Vertrages. Wie stark in diesem Kontext bis heute eine Regelung der Reproduktion im Mittelpunkt steht, hat im Juli 2004 ein kath. Moraltheologe auf der Jubiläumsveranstaltung der HuK Freiburg illustriert. Er benutzte den Terminus „biologische Leistungserbringung“.
Oder meinen wir eine evangelische Perspektive, zum Beispiel die von Martin Luther? Der sprach in seinem Traubüchlein von einem weltlich Ding oder Geschäft. Gleichwohl aber wollte er den Wunsch nach kirchlichem Beistand durch Gebet, Segen oder Trauung nicht abschlagen: „Denn ob’s wohl ein weltlicher Stand ist, so hat er dennoch Gottes Wort für sich und ist nicht von Menschen erdichtet oder gestiftet wie der Mönche oder Nonnen Stand.“
Oder meinen wir Augustinus, der an Julian von Ecclanum, einen verheirateten Kollegen im Bischofsamt, sinngemäß schrieb: „Du willst also, gerade wenn es juckt und euch danach ist, mit deiner Frau ins Bett steigen? Wenn das deine private Anschauung ist, dann schweige doch bitte im Raum der Kirche davon!“[3]
Die Vielzahl der Ehe- und Familienbilder der jüdisch-christlichen Geschichte ist schier unübersehbar. Man könnte mit den Vielfrauen-Ehen der Patriarchen und den Harems der Könige Israels beginnen. Seines Nächsten „Hab und Gut“ oder seine „Weiber“ nicht zu begehren, das war mitunter ein- und dasselbe. Als christlich hat man später zumeist ausgegeben, was den jeweiligen Ideologien und gesellschaftlichen Bedürfnissen entgegen kam. Standeshochzeiten, politische Zwangsverheiratung von Kleinkindern, dergleichen galt bis in die Neuzeit hinein als normal. Nicht Gott, sondern blankes Kalkül hatte dann die Eheleute miteinander verbunden. Arme Leute konnten oft gar nicht heiraten – aus wirtschaftlichen Gründen. Für Vergewaltigung in der Ehe und das Quälen der eigenen Kinder kannten viele christliche Unterweisungsbücher keinen Tadel. So etwas wie eine Liebesheirat war den meisten Jahrhunderten unbekannt. Egal, wie trostlos eine Ehe geriet, wichtig war den Glaubenshütern allein, dass die Geschlechtsorgane ausschließlich innerhalb des Eheinstituts benutzt wurden. Wenn der Nationalstaat viele Soldaten brauchte, nannte man vor allem den Kinderreichtum heilig. Oder man dachte sich seit alters her: Gott ist der Vater, die Kirche ist die Mutter und die vielen Gläubigen sind die kleinen Kinder. Die wiederum müssen wieder Kinder gebären und sie im Namen der einzig wahren Kirche taufen lassen, und so weiter.

2. Perspektiven der biblisch-religiösen Tradition für Schwule, Lesben und ihre Partnerschaften

Ich möchte nach diesen polemischen Anklängen mit den Bildern der christlichen Tradition beginnen, die für Schwule und Lesben nicht weniger förderlich sein können als für andere. Es sind viele Bilder, und ich muss mich mit Andeutungen begnügen.[4]  Seit mehr als einem Vierteljahrhundert gibt es dazu zahlreiche theologische Veröffentlichungen, darunter das demnächst neu aufgelegte Pionierwerk von Hans-Georg Wiedemann oder mein Entwurf „Das Lied der Liebe ...“. Wir können erwarten, dass unsere kirchlichen Gesprächspartner sich damit vertraut machen und uns in Gesprächen über „christliche Familienbilder“ nicht mit antihomosexuellen Plattitüden von vorvorgestern langweilen.
Da ist zunächst die wunderbare Weisheit auf den ersten Seiten der Bibel. Von Heterosexualität und Kinderkriegen ist im Paradies vorerst keine Rede. Es ist nicht gut, so meint Gott, dass der Mensch allein bleibt. (Gen 2,18) Er soll ein Gegenüber bekommen, ein DU, dem er sich verwandt fühlt und mit dem er durchs Leben gehen kann. Gedacht ist an einen Gefährten, der ihm auf besondere Weise in jener Einsamkeit hilft, die zum Menschsein gehört. Von dieser Hilfe ist im leibhaftigen Leben keine menschliche Liebe ausgeschlossen, was immer auch irgendwelche Bücher behaupten. Durch eine Partnerschaft hat sich ein schwuler Junkie, den ich seit zehn Jahren kenne, von Grund auf verändert. Bei der Trauerfeier für seinen leider vor einiger Zeit verstorbenen Freund habe ich ihn dann zum ersten Mal weinen gesehen. Der Pfarrer wandte sich ihm – ohne jeden Anklang an etwas Ungewöhnliches – als dem hinterbliebenen Partner zu.
Nun werden, um weiter in der Genesis zu lesen, zwei Menschen „ein Fleisch“. Das sollte man auch, aber nicht nur sexuell verstehen. Die Fleischwerdung betrifft nicht nur sexuelle Ekstase, sondern leibliche Verbundenheit im gemeinsamen Alltag, Rituale der Zärtlichkeit und ein Zusammengehören, in dem einer ohne den anderen gar nicht sein will und nicht sein kann – und das auch die anderen Menschen so wahrnehmen. Wenn meine Großeltern Franz und Franziska nach sechzig Ehejahren vor ihrem kleinen Häuschen saßen, war das ein unspektakuläres Bild aus dem Paradies. Und genau so habe ich es später auch bei zwei Männern oder zwei Frauen gesehen. Um ganz schlicht mit dem Buch des Predigers zu sprechen: Zwei sind besser als einer allein, denn dann wird das Leben wärmer. (Koh 4,9-11)
Man hat mich gebeten, an dieser Stelle eine christliche Apologie der sexuellen Lust einzuflechten. Mir widerstrebt das, weil ich meine, dass – auch Dank der Homodebatte in den meisten Kirchen – dieses Kapitel eigentlich heute geklärt sein sollte und bei erneuten Rückfällen Worte wenig helfen. Wer – noch immer – als Christ beschädigt ist von der alten Besudelung der Lust durch Angst oder fleischlose Idealisierungen der Sexualität, dem hilft auch die tausendste Predigt nicht. Dass das Lustvolle gut ist und der Trieb kein Teufelswerk, das erfährt man, wie ich aus meiner Erfahrung heraus meine, nur in angstfreien Begegnungen, durch Sex.[5]  „Böse“ wird Sex nicht durch äußere Hetero- oder Homosexualität, sondern durch etwas Unheilvolles im Innenleben von Menschen, ganz gleich, ob sie schwul, lesbisch oder hetero sind. Weil menschliche Sexualität eine seelische Begegnungs- und Bindungsenergie und keine bloße Fortpflanzungsfunktion ist, lässt sie sich nicht auf Mann und Frau eingrenzen. Wer schließlich ohne eigene Erfahrungen behauptet, gleichgeschlechtliche und gegengeschlechtliche Sexualität seien verschieden wie zwei weit entfernte Sternenwelten, der redet Unsinn. Ein Bisexueller tanzt mit seinen verschiedenen Begabungen nicht auf zwei Kontinenten, sondern eher in unterschiedlichen Häusern des gleichen Dorfes. Man bräuchte keinen Nachmittag dafür, um das Hohe Lied im „Alten“ Testament so umzuschreiben, dass es auch als hocherotisches Liebeslied für zwei Frauen oder zwei Männer gelesen werden kann.
Mein nächstes positives Stichwort ist Fruchtbarkeit. Eine Ehe mit Kindern kann bis in zukünftige Generationen hinein fruchtbar sein, aber sie kann bis in zukünftige Generationen hinein auch zerstörerisch wirken. Wenn liebesfähige Menschen Kinder beim Wachsen und auf der Suche nach dem eigenen Leben begleiten, ist das ein großer Segen. Ich sage ganz konservativ, dass an der viel missbrauchten „Keimzelle der Gesellschaft“ was dran ist. Wir benötigen Familienmodelle, die auch zukünftig liebevolle Räume für Kinder ermöglichen. Aber so wie eine Ehe trotz „erfolgreicher“ Kinderzeugung unfruchtbar sein kann, kann eine kinderlose Ehe oder Partnerschaft sehr fruchtbar sein. Wenn zwei Menschen zusammen gehen, wachsen Reichtümer, die es vorher nicht gab. Neue Räume, Ideen, Rituale, Lieder und Sprachen werden geboren. Partner verändern sich in einer Beziehung. Menschen in der nächsten und weiteren Umgebung können durch eine Partnerschaft beschenkt werden. ... (Das schlechteste Beispiel für die vielen Fruchtbarkeiten und Früchte einer Liebe ist vielleicht eine gemeinsame Geschäftseröffnung.) Und wieder spielt es überhaupt gar keine Rolle, ob hetero oder homo. Wer mit Hilfe der Bibel nun „Fruchtbarkeit“ und „Geburten“ auf einen materialistischen Biologismus reduzieren möchte, dem sei zum Beispiel Jesaja 56,3-5 und das 3. Kapitel im Johannes-Evangelium zur Lektüre empfohlen. Wer dennoch auf dem Fortpflanzungszweck herumreiten möchte, der muss allen kinderlosen Paaren sagen, ihre Liebe hätte keinen Zweck. Das wäre entweder Unfug, den man nicht mit dem Etikett „christliche Theologe“ versehen kann, oder aber es läge große Weisheit darin: Wirkliche Liebe ist immer zwecklos, ohne fremde Zwecke.
Mit einem großen Sprung möchte ich nun dem katholischen „Sakrament“ das Wort reden. Sakramente sind nicht punktuelle Akte von Magie, die in Kirchenräumen stattfinden, sondern Zeichen für Wirklichkeiten, die überall im Leben geschehen können. Befreiung von Schuld, Versöhnung mit der eigenen menschlichen Endlichkeit und die Erfahrung einer nicht ausdenkbaren Güte, das geschieht manchmal in einem Beichtstuhl und meistens ganz anderswo. Sakramente sind ein „wirksames Zeichen“ dafür, dass Gott da ist. Eine solche Spur von Gott kann auch die Liebe zwischen einem Mann und einer Frau, zwischen zwei Frauen oder zwischen zwei Männern sein. Ich finde – anders als Luther – nicht, es ginge dabei nur um ein „weltliches Geschäft“.[6]  Und ich meine ebenso, Karl Barth hätte ganz falsch gelegen, als er lehrte, der Mensch sei nur im Gegenüber von Frau und Mann Gottes Ebenbild. (Anders sagt z. B. 2001 eine Arbeitshilfe der deutschen Bischofskonferenz, der Mensch sei nicht aufgrund der geschlechtlichen Differenzierung als Mann oder Frau, sondern als Mensch mit einer unverwechselbaren Individualität ein Ebenbild Gottes.[7] ) Menschliche Liebesbeziehungen sind ein Bild des „dreifaltigen Gottes“, weil in ihnen statt einer einsamen ICH-Klage ein Ich-Du-Wir-Lied gesungen wird, nicht aber deswegen, weil sie speziellen Geschlechterkonstellationen entsprechen.[8]
Mit „Sakrament“ kommt noch etwas anderes zum Ausdruck: Menschen lieben nicht wie Gott anfangs- und voraussetzungslos. Menschen tragen in sich eine Sehnsucht nach Liebe, doch sie können nur als Geliebte lieben lernen. Sie können außer dem aufrichtigen Wunsch, selbst Liebende zu sein, von sich aus eigentlich nichts anbieten. Hier kommen die evangelischen Sichtweisen ins Spiel: der Segen, die Segensfürbitte oder das Gebet. Der Schwerpunkt liegt mehr darauf, dass menschliche Liebe – hetero oder homo – bedürftig ist, dass sie mit ihrem „guten Willen“ den Raum einer größeren Liebe braucht und also die Gewissheit: „Ihr seid gesegnet!“ Wenn wir in ökumenischer Hinsicht nicht so verbohrt und rechthaberisch wären, könnten wir Reichtum und Armseligkeit der menschlichen Liebe gleichzeitig bedenken. Wir würden das göttliche Geschenk, die menschliche Liebesbegabung, als ein Sakrament feiern und gleichzeitig um Segen bitten, weil wir nur die Liebe von Bettlern der Liebe in uns tragen.
Für beide Sichtweisen ist der Kirchenraum als Symbol und als soziale Wirklichkeit wichtig. Wer lesbische oder schwule Paare nur in ihren ganz privaten Räumen „pastoral begleiten“ möchte, bekräftigt eine individualistische Paar-Ideologie, die der christlichen Tradition nicht entspricht. Für mich ist „Kirche“ heute vor allem ein Sakrament der Gemeinschaft von Menschen, das Gegenbild zu einer Gesellschaft, die am Ende nur noch aus privaten, isolierten Konsumeinheiten und „Ich-AGs“ besteht. Wenn Paare – gleich welcher Konstellation – keine Zwei-Einsamkeit kultivieren wollen, brauchen sie dieses größere Sakrament der Verbundenheit, sei es die Herkunftsfamilie, das Freundesgeflecht, der Bekanntenkreis, die Regenbogen-Family, die Hausgemeinschaft, die Nachbarschaft ... oder eben auch die Kirchengemeinde. (Mit Nachdruck sei daran erinnert, dass „Singles“ Familie in diesem weiten – sehr christlichen – Sinn genauso benötigen. Familie ist einer der vorzüglichen Namen von Solidarität.)
„Ich will dich lieben, achten und ehren. Ich will mich um dich sorgen, in guten wie in schlechten Tagen.“ Ich kann nicht erkennen, warum eine solche Trauformel auf eine Verbindung von Mann und Frau eingeschränkt sein sollte. Ob womöglich erst der Tod eine Beziehung scheidet (Rut 1,16-17), für ein solches Geschenk kann ein sterblicher Mensch guten Vorsatz mitbringen, aber natürlich keine Garantie. Ein liturgischer Ritus kann ein wunderbarer Raum und eine echte Hilfe sein, das alles auszudrücken. Wenn nun sogar schwule (oder lesbische) Theologen beider Konfessionen gleichgeschlechtliche Feiern, die – so das Schreckgespenst – „an eine Trauung erinnern“, ablehnen, sollte man gründlich nach den Motivationen fragen. Manchmal wird nur für alle abgelehnt, was gerade für den eigenen Weg nicht passend ist. Manche katholische Zölibatäre üben sich zum Beispiel in der Behauptung, sie hätten ja „nur“ eine exklusive Bindung mit ihrem Weiheversprechen ausgeschlossen, dürften ansonsten aber ihre Sexualität „ausleben“. (Ich habe nichts gegen ein promiskes Verständnis des eigenen Zölibats. Doch man sollte dann die fehlende Neigung oder Begabung für feste Beziehungen nicht als ein großes Charisma verfeierlichen.) Innerkirchlich kostet es dann wenig, als Schwuler die liturgische Feier für gleichgeschlechtliche Paare abzulehnen.
Die neoliberale Beziehungsformel lautet: „Ich will dich vergöttern und dir alles kaufen, an guten und an noch besseren Tagen, in Erfolg, Innovation und Transformation.“ Zwischenmenschliche Beziehungen sind der aktuellen Umformung der Gesellschaft dann am besten angepasst, wenn sie Warenbeziehungen geworden sind. Sexualität ist ein herausragendes Verkaufsprodukt. Auch an der kommerziellen Schwulenszene kann man ablesen, wie viel Fremdbestimmung von Erotik und sexueller Lust das mit sich bringt.[9]  Eine von Panik durchdrungene christliche Familienideologie kann an dieser Stelle weder Kritik noch Einladungen formulieren. Das scheinbare Paradox liegt darin, dass die sehr menschlichen Grundanliegen christlicher Partnerschaftsbilder erst dann zum Tragen kommen, wenn diese ihr ideologisches, lebensfernes Korsett abstreifen.

3. Eine bedrohliche Perspektive: Die „Homo-Ehe“ als Tor zur Hölle – Die Krise der Familie und der antihomosexuelle Kulturkampf

Im evangelischen Bereich finden förderliche Perspektiven zunehmend auch im kirchenamtlichen Kontext Berücksichtigung, was nicht zuletzt ein Ergebnis jahrzehntelanger HuK-Arbeit ist. In vielen katholischen Gemeinden unten hat sich das Klima ebenfalls zum Besseren hin verändert, allerdings im krassen Gegensatz zur offiziellen Kirchenideologie. Leider müssen wir jetzt zu den dunklen Perspektiven kommen, die das so genannte christliche Familienbild für Schwule und Lesben bereitet. Je offenkundiger die Krise der traditionellen Auffassungen von Ehe und Familie wird, desto größere Angst treibt die Traditionalisten um und desto lauter werden die Parolen zum Schutz des „Ideals“. Und das ist für uns nicht ganz ungefährlich.
Die Lage lässt sich vielleicht am besten mit dem illustrieren, was seit Ende des letzten Jahrhunderts in ländlich und noch kirchlich geprägten Gegenden passiert. Nicht mehr die herkömmlichen Normen des Kleinraumes, sondern die Lebensstile der vernetzten Massenkultur sind Wegweiser.[10]  Ehescheidungen der eigenen Kinder treffen die Elterngeneration wie eine Katastrophe. Oftmals bewirken sie große Schuldgefühle. In neuen Wohnsiedlungen findet auf einmal so etwas wie ein Tausch von Ehepartnern statt. Eben erst gebaute Häuser, die ein lebenslanges Familienheim werden sollten, müssen weit unter Preis verkauft werden, weil der Traum vom trauten Glück nach kurzer Zeit ausgeträumt ist. Die christlichen Prediger stehen zumeist hilflos und sprachlos vor diesem „Sodom und Gomorra“. In den seltensten Fällen werden sie als förderliche Gesprächspartner empfunden.
Aus gegebenen Anlass ist auch ein Blick in die Vereinigten Staaten von Amerika zu empfehlen. Die hohe Heiratsrate, fast doppelt so hoch wie hierzulande, sticht ins Auge, nicht minder aber eine vierzig- bis fünfzigprozentige Scheidungsrate, die auch etwa doppelt so hoch liegt wie in den meisten europäischen Ländern. „1994 gab es 17,4 Millionen geschiedene Personen. Eine Vervierfachung im Vergleich zu 1970.“[11]  Die große Heiratswilligkeit der jungen Leute legt nahe, dass die tradierten Pro-Family-Normen öffentlich noch viel Geltung haben. Die Scheidungsziffern zeigen aber gleichzeitig, dass die Praxis ganz anders aussieht.
Die neuere Entwicklung in den USA signalisiert, dass die „Krise der Ehe“ und Homofeindlichkeit unter bestimmten Bedingungen zusammengehen. Die „Homo-Ehe“ ist im letzten Präsidentschaftswahlkampf der USA ein herausragendes Reizthema geworden. Der christliche Fundamentalismus befördert eine rechtsextreme, antiliberale Stimmung und zeigt eine Kulturspaltung der Nation an. Die Militanz der Homogegner ist bekannt. (Dreizehn Prozent der 7.755 registrierten Hassverbrechen waren nach einem Bericht von 1998 durch die sexuelle Orientierung der Opfer motiviert.) Die Hasspropaganda so genannter Christen bemüht den Teufel und seine Hölle, wenn es um Schwule und Lesben und um ihr gottloses Verlangen nach Bürgerrechten geht.
Dass die Republikaner diese Kreise instrumentalisieren und mit ihrer Variante einer „christlichen Nation“ bedienen, hat Kardinal Ratzinger unlängst gelobt. Die römisch-katholische Kirche kann den Widerspruch, als letzte Bastion gegen homosexuelle Bürger- und Menschenrechte in ihren Reihen die meisten schwulen Amtsträger zu haben, immer noch nicht verdauen. Auf die Familienkrise antwortet sie wie die US-Evangelikalen mit Dämonisierungen. Ratzinger prägte bereits im Zusammenhang mit der bundesdeutschen Partnerschaftsgesetzgebung die Losung vom „Untergang des Abendlandes“. Noch deutlich als Vorgängerdokumente beschworen 2003 die „Erwägungen [der Glaubenskongregation] zur rechtlichen Anerkennung“ von homosexuellen Partnerschaften so etwas wie ansteckende Gefahren für die Volksgesundheit. (Die sprachlichen Anklänge an faschistische Traditionen sind schwer zu überhören.) Der Papst deutet in seinem soeben erschienen Buch[12]  an, dass das Tor zur Hölle offen steht: „Und auch an anderen schweren Formen der Verletzung der Gesetze Gottes [neben der Abtreibung] fehlt es nicht. Ich denke z. B. an den starken Druck des Europäischen Parlaments, homosexuelle Verbindungen anzuerkennen als alternative Form der Familie [...]. Es ist zulässig und sogar geboten, sich zu fragen, ob nicht hier – vielleicht heimtückischer und verhohlener – wieder eine neue Ideologie des Bösen am Werk ist, die versucht, gegen den Menschen und gegen die Familie sogar die Menschenrechte auszunutzen.“
Zumindest im kirchlichen Bereich wird durch den fundamentalistischen Kreuzzug gegen die „Homoehe“ eine Beschädigung der heterosexuellen Ehe neu aufgelegt, die als überwunden galt. Schwule und lesbische Christen werden durch den von der Diskriminierungskampagne erzeugten Druck wieder leichter in eine Lebensform hineingedrängt, in der sie sich und andere nur unglücklich machen können.
Die evangelikalen und rechtskatholischen Hetzmethoden zur Verteidigung „christlicher Familienbilder“ könnten auch bei uns in absehbarer Zeit wieder auf mehr Zustimmung stoßen. Ein kriegerisches Männlichkeitsideal, das in der Geschichte noch stets mit Homoangst einherging, macht sich in der Massenkultur breit. Rechtsradikale ziehen in unsere Parlamente ein. Schließlich produziert die ausgerechnet von Rot-Grün heiliggesprochene Brutalisierung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung neue Sündenböcke. Nach einer 2004 vom Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer herausgegebenen Studie gehören dazu Juden und Muslime; aber auch die Toleranzparameter bezogen auf Obdachlose und Schwule sinken. Zur fundamentalistischen tritt offenbar die säkulare Homophobie. Aus Thüringen berichtet z.B. ein HuK-Mitglied folgenden Eindruck: Ein rechter Macho-Habitus bietet jungen Männer als „Kulturersatz“ eine vermeintliche Orientierung. Die Zeugung vieler unehelicher Kinder, eine Abkehr vom emanzipierten Frauenbild und Homofeindlichkeit gehen dabei Hand in Hand. (Die neuere Entwicklung wird eine unbekümmerte Generation treffen, die schwul-lesbische Rechte und Frauenemanzipation nicht als politische Errungenschaften, sondern als Selbstverständlichkeit betrachtet.)
Die Methode, die von Leuten wie dem Kölner Oberhirten Meisner publikumswirksam verfolgt wird, ist nicht neu: Wer keine Lebensantworten auf Krisen entwickeln kann, braucht Feindbilder. An der Krise der heterosexuellen Familie sind natürlich die homosexuellen Frauen und Männer schuld und ebenso Politiker, die Antidiskriminierungsgesetze verabschieden.

4. Schwul-lesbische Lebensformen als Erfahrungsfeld für ein christliches Ethos

Vor diesem Hintergrund können wir nur dringlich wünschen, dass die christlichen Kirchen in Sachen Partnerschaft und Familie neue Kompetenzen entwickeln. In Hermann Hesses Erzählung NARZIß UND GOLDMUND fragt der junge Goldmund, den Wunsch zum Klostereintritt mit sich tragend, in frommen Formeln nach seiner Lebensbestimmung. Narziß, der angehende Theologe und tiefe Menschenkenner, antwortet ihm: „Sehr gut. Im Lehrbuch der Dogmatik ist freilich ein Mensch genau wie der andere, im Leben aber nicht.“ Die von Angst getriebenen Fundamentalisten brauchen das hehre Einheitsdogma, sonst bricht bei ihnen alles zusammen: Nur Mann und Frau können einen Bund eingehen, und der muss – komme was wolle – lebenslang halten, Kinder hervorbringen und als oberstes Gebot die sexuelle Monogamie befolgen. So bringt man es in Rom fertig, das geduldige Ausharren einer traktierten Ehefrau bei einem Alkoholiker durch Seligsprechung offiziell als Vorbild herauszustellen. Ob diese „Selige“ möglicherweise als Mutter das Wohl ihrer Kinder sträflich missachtet hat, wird nicht gefragt.
Gegen die Gleichmacherei der kirchlichen Ehedozenten, die zum Teil ja ausdrücklich keine eigenen Partnerschaftserfahrungen machen dürfen, ist Einspruch zu erheben. Das Hineinpressen von leibhaftigen Menschen in fertige Schablonen kann sich jedenfalls nicht auf Jesus berufen. Der Mensch ist nicht für den Sabbat, für die Befolgung unumstößlicher heiliger Gesetze da. Die Lebensweisungen, für die der Sabbat steht, sind vielmehr umgekehrt für den Menschen da. Sie sollen uns helfen, zu leben und – wie der eingangs zitierte Ingmar Bergmann – zu einer eigenen „Liebeserklärung an das Leben“ zu finden.
Nun bin ich sehr davon überzeugt, dass die Kirchen bei einer Suche nach neuen Lebenskompetenzen von Lesben und Schwulen lernen können.[13]  Deshalb habe ich die vereinbarte Überschrift meines Vortrages in einem Zusatz umgedreht: „Perspektiven schwuler und lesbischer Lebensformen für christliche Familienbilder“. Weitergehend will ich nicht nur auf Familienbilder gucken, sondern auf das christliche Ethos überhaupt.
Da ist zunächst die Fixierung christlicher Familienideologen auf Rollenbilder und Aufgabenzuweisungen von Mann und Frau. Dabei geht es nicht um ewige Naturtatsachen, sondern um kulturgeschichtlich, soziologisch und ökonomisch geprägte Sachverhalte. Die Vielfalt schwuler und lesbischer Lebensformen zeigt – zeitlich schon vor neuen Erfahrungen im heterosexuellen Bereich, dass Zweigeschlechtlichkeit und angeblich unabänderliche Wesensmerkmale von Mann und Frau für Partnerschaften keineswegs absolut gesetzt werden müssen. Ganz praktisch: Heterosexuelle Paare, in deren Freundeskreis es schwule oder lesbische Menschen bzw. Paare gibt, können mitunter durch andere Modelle in den Gestaltungsmöglichkeiten ihrer Beziehung bereichert werden. (Bezogen auf die Gesamtgesellschaft lässt sich folgende Gesetzmäßigkeit beobachten: Die Emanzipation von Frauen und die von Homosexuellen machen im Gleichklang Fortschritte oder Rückschritte. Beide Befreiungen sind miteinander verbunden.)
Das heikelste Thema betrifft vielleicht die lebenslange sexuelle „Treue“, zumeist im Sinne exklusiver Genitalität verstanden. Sie erscheint als Norm oder unabdingbare Voraussetzung kirchlich wie das höchste Gut.[14]  Bis ins letzte Jahrhundert hinein gab es äußere Zwänge, Notwendigkeiten und Begünstigungen für dieses höchste Gut: die soziale Kontrolle, verinnerlichte kirchliche Normen, fehlende Empfängnisverhütung, wirtschaftliche Abhängigkeit der Frau oder auch eine relativ geringe Lebenszeiterwartung. Für viele Heterosexuelle, für viele Lesben und für einen Teil der Schwulen ist die auf die Partnerschaft bezogene Ausschließlichkeit der Sexualität auch die geeignetste Lebensform. Sie bringen – auf unterschiedliche Weise – die Begabung dafür mit und können es sich gar nicht anders vorstellen. In ihren Beziehungen findet oft ein fortschreitendes Wachstum von Intimität und sexueller Anziehung statt. Wäre das Leben nicht um einiges unkomplizierter, wenn Gott sexuelle Lust in Partnerschaften für alle Menschen auf Dauer ungleich intensiver als überall sonst gemacht hätte? Die erotische Energie, die unseren Alltag bereichert, müsste dabei ja keineswegs verschwinden.
Im wirklichen Leben sind die Verhältnisse für nicht wenige Menschen, Partnerschaften und Ehen aber eben anders und sind auch die Menschen mit ihrer Sexualität höchst verschieden! Manche lieben ihren Partner, sie möchten keinen anderen haben, sie fühlen sich ihm körperlich ganz zärtlich verbunden, sie sorgen treu für den anderen und für das Gemeinsame ..., aber die sexuelle Glut ist erloschen – mitunter sogar gerade aufgrund der intimen Verbundenheit. Und weil es ein Tabu ist, darüber zu sprechen, nimmt das Unheil nicht selten seinen Lauf: Die Befriedigung sexueller Bedürfnisse geschieht in einem geheimen Doppelleben, das die Partner sprachlos werden lässt und einander entfremdet. Manchmal wissen sie um Geheimnisse des anderen und wahren doch das Ritual der äußeren Form. Manchmal treibt die Flaute im Schlafzimmer oder das ständige Lügen einen der Partner in den Alkohol. Ähnlich wie in der Zölibatspraxis werden der Heuchelei Tür und Tor geöffnet. Oft wird zerstört, was ohne eine Vergötzung von Sex eine gute Lebensgrundlage hätte.
Um es klar und deutlich zu sagen: Ich glaube, dass es bei solchen Veränderungen einer Partnerschaft keine Patentlösungen oder eindeutige Regeln geben kann. Der Ratschlag, nicht jedem Triebimpuls nachzugehen und zugunsten von etwas sehr Wertvollem bewusst Verzicht zu üben, kann hilfreich sein oder auch nicht. Auf keinen Fall hilfreich ist eine Ehe- oder Partnerschaftsideologie, die für alle verschiedenen Fälle des Menschlebens nur eine einzige Antwort parat liegen hat. Ich nenne die Geschichte einer Frau, die zuhause ihren querschnittsgelähmten Ehemann liebevoll pflegte und sich alle zwei Wochen einen erotischen Abend bei einem Liebhaber gönnte. Das Dorf betrachtete sie selbstgerecht als Sünderin, weil es nicht gelernt hatte, dass es ein gutes Leben auch mit Widersprüchen und ungeraden Linien geben kann. Ich bin der festen Überzeugung, dass sehr verschiedene Wege namentlich in vielen langjährigen schwulen Partnerschaften auch manche heterosexuelle Ehe retten könnten: Es wird offen über sexuelle Bedürfnisse und Veränderungen in der Beziehung gesprochen. Viele hängen ihre Partnerschaft nicht an einer Fixierung auf Sex auf und betrachten ein erotisches Abenteuer – oder auch die Öffnung auf einen Dritten hin – nicht unbedingt als Untreue.[15]  Man verspricht sich keine Gesetze, sondern Ehrlichkeit. Es werden ganz nüchtern Vereinbarungen getroffen, um z. B. den Schutz vor Geschlechtskrankheiten wie HIV zu gewährleisten.[16]  ... Nicht alle, die solche Wege gehen, finden sie leicht, aber viele machen die Erfahrung, dass sie „funktionieren“ können und dass die Überwindung oberflächlicher Eifersuchtsreflexe kein Verlust sein muss. Im übrigen entwickeln sich förderliche Wege nicht über Kanzelverkündigungen von oben.[17]
Eine andere Bereicherung, die Schwule, Lesben und nicht-normierte Partnerschaften mit ihren Erfahrungen für die christliche Ehe-Kultur eröffnen könnten, betrifft den Umgang mit einer Trennung. Wenn das unumstößliche Ehe-Dogma gilt, kann ein Scheitern immer nur als ausweglose Katastrophe betrachtet werden. Das verbreitetste Reaktionsmodell bei einer Ehescheidung ist vermutlich die „Kriegsführung“. Weil schwule oder lesbische Paare häufiger nicht durch gemeinsamen Hausbau, durch äußere Erwartungen oder durch Kinder gebunden sind, konzentrieren sich ihre Trennungserfahrungen oft auf den seelischen Schmerz und können im günstigen Fall zu einer gemeinsamen Trauer führen. Wie wertvoll sind – gerade auch aus christlicher Sicht – Versöhnungen nach einer Trennung, bei der es viele böse Worte oder viele Tränen gegeben hat. Wie wunderbar kann es sein, wenn nach dem Ende einer Partnerschaft sich eine Freundschaft entwickelt, in der es auf andere Weise eine lebenslange Liebe und auch die Freude (!) an einer neuen Partnerschaft des anderen gibt. Der Blick auf den Heilungsweg einer Trennung und auf die Kostbarkeiten, die aus einem Scheitern hervorgehen können, bleibt der christlichen Ehe- und Familienideologie[18]  wegen ihrer Fixierungen zur Stunde jedoch oft verschlossen.
Das kirchliche Vorurteil, Menschen ohne Trauschein (oder ohne eingetragene Partnerschaft) könnten per se nur unverantwortlich Sexualität „praktizieren“, gehört zu diesen Fixierungen. Ein riesiges Lebensfeld, auf dem die „christliche Ethik“ aufgrund überkommener Tabus so gut wie gar nichts beiträgt, ist die Sexualität außerhalb von Partnerschaft bzw. Liebesbeziehung.[19]  In jeder schwulen Sauna kann man hier vermutlich mehr lernen als an einem Lehrstuhl für Moraltheologie. Es gibt Promiskuität, und auch Promiskuität braucht eine lebensfreundliche Kultur! Ein sich selbst als „sexsüchtig“ ausgebender Schwuler erzählt mir zum Beispiel, dass er bei seinen zahlreichen anonymen Sexkontakten durchaus ungeschriebene „Regeln“ befolgt. Er bemüht sich z. B., eine Absage freundlich rüberkommen zu lassen. Er findet ein Verlästern von Älteren oder weniger Attraktiven, wie es im Gewinnerkult der vermeintlich Schönen obligat ist, doof. Er kann auch flüchtige Begegnungen nur richtig genießen, wenn es irgendwie nett zugeht und die Lustbarkeit wechselseitig ist. (Bei Einladungen nach Hause soll der Gast sich wohl fühlen.) Er meint, man könne sich nach einem schönen Abenteuer ruhig gegenseitig ein „Danke“ rüberbringen ... Ich meine, all das ist wirklich bedeutsam und hat mit Menschlichkeit zu tun. Die skizzierte Kultur eines bekennenden Sexsüchtigen ist christlicher als das von Antonia Bird im britischen Film DER PRIESTER (1995) realistisch dargestellte Verhalten eines katholischen Klerikers, der aufgrund seines geheimen Doppellebens einen Sexualpartner rücksichtslos verletzt.
Ein anderer Aspekt, der wieder näher am Familienbild ist, betrifft die Kinder. Der ehelose Jesus, dessen Zuneigung zu den Kleinen das Markus-Evangelium (10,16) nicht nur als geistigen Heilandssegen beschreibt, ist Vorbild für eine nicht biologisch definierte christliche „Familienpraxis“. Viele Lesben und Schwule haben besondere Beziehungen zu Nichten und Neffen. Auf diese Weise nehmen sie teil am Beziehungsgeflecht der Generationen im engeren Bereich der Familie. Auch schwule oder lesbische Partnerschaften, in deren Haushalt Kinder aufwachsen, können zeigen, dass Elternschaft wesentlich nicht aus einer genetischen, im Labor nachweisbaren Blutsverwandtschaft lebt. Ein Dogma, das auch Alleinerziehenden und anderen nicht-genormten Familien um die Ohren gehauen wird, lautet: „Kinder brauchen Vater und Mutter!“ Viele Kinder haben, was dieses Dogma fordert, und verkümmern. Wirklich unverzichtbar sind für ein Kind nicht äußere Normvorgaben, sondern Erwachsene, die ihnen mütterlich, väterlich, menschlich begegnen. – Einer meiner schwulen Freunde betreut [ohne pädophile Ambitionen] seit fünfzehn Jahren ein Sommerlager für Kinder und zwar immer während seiner Urlaubszeit. Andere Lesben und Schwule nehmen in der Schule, in Jugendeinrichtungen, Heimen, Gruppen ... oder in ihrer Nachbarschaft als Erwachsene Verantwortung für Kinder wahr. Zuweilen werden sie als Ersatzmütter oder Ersatzväter auserkoren, wenn Zuhause nicht alles stimmt. Ein christliches Ethos, dass die Beziehung von Großen und Kleinen vornehmlich auf biologische Bande fixiert, ist erbärmlich. Im Großen geht es schließlich – auch ohne eigene leibliche Kinder – darum, Verantwortung für die zu übernehmen, die nach uns geboren werden. Die heterosexuell dominierte Kultur übt sich unverdrossen in einem verbrecherischen Umgang mit dem Lebensraum Erde und beweist gerade nicht, dass sie dieser Herausforderung gewachsen ist.
Zur Familie gehören aber auch die Alten, die grau gewordenen Eltern oder Großeltern. Ohne statistische Daten wage ich zu behaupten, dass prozentual mehr Lesben und Schwule Verantwortung für hilfsbedürftige alte Angehörige übernehmen als Heterosexuelle. (Die Gründe dafür waren in der Vergangenheit allerdings oft praktischer Natur. Die Unverheirateten blieben in der Familie oder die Herkunftsfamilie blieb für sie als „einzige Familie“ bedeutsamer, etc.) Wenn ein schwuler Altenpfleger den Vater seines Freundes über Jahre pflegt und dabei viele materielle Nachteile in Kauf nimmt, zeigt sich, dass Familienethos kein heterosexuelles Monopol darstellt. Wir sehen gegenwärtig, wie immer mehr Alte vereinsamen oder sogar verelenden.[20]  In dieser Situation machen sich Leute in schwul-lesbischen Netzwerken Gedanken darüber, welche gemeinsamen Lebensformen für das Alter man entwickeln könnte. Auch solche Initiativen können ein christliches Familienbild, das sich von der biologischen oder zweigeschlechtlichen Fixierung löst, bereichern.
Schließlich meine ich, dass gegenwärtig gerade die religiöse Tradition einen Familienbegriff erschließen sollte, in dem die fromme Anrede „Bruder“ oder „Schwester“ wirklich universelle Bedeutung gewinnt. Die biologische Familie entspricht in gewisser Weise der steinzeitlichen Sippe. Jeder Mensch braucht im nahen Raum eine Kleingruppe, die ihm irgendwie das Gefühl der Zugehörigkeit vermittelt und im Notfall für ihn einspringt. Doch das Ethos solcher Familienbande gelangt mitunter über den egoistischen Kodex eines Mafia-Clans nicht hinaus. Die politische Ideologie kann schließlich die Instinkte der Kleingruppe auch auf abstrakte nationale Gebilde und Kriegsparolen übertragen. Über die Gefährlichkeit solcher „Familienbilder“ unterrichtet uns die Geschichte leider im Übermaß. Ganz anders als die Abkömmlinge der kriegsbereiten Familien schreibt im 3. Jahrhundert der christliche Schriftsteller Minucius Felix: „Wir unterscheiden Stämme und Nationen; aber für Gott ist diese ganze Welt ein Haus.“ In den für die Aleviten wichtigen Aussprüchen des Imam Ali heißt es: „Sind nicht alle Menschen aus Fleisch und Nerven gemacht? Aus Blut, Knochen; Nerven und Fleisch? Sind sie nicht aus Hefe, aus einem Tiegel hervorgegangen? Stammen nicht alle Menschen von einer Mutter, einem Vater ab? Wenn der Mensch das Bedürfnis hat, zu loben, dann für die Vernunft, für das Wissen, für ein freundliches Wesen, für ein gutes Herz. Dummheit! Der Dumme zeigt sich darin, dass er mit seiner Abstammung prahlt.“ In einer globalisierten Welt werden wir ohne einen so weitherzigen Familienbegriff, wie ihn etwa auch der Männer liebende Weltbürger Alexander von Humboldt (1769-1859) gelebt hat, keine menschenwürdigen Verhältnisse entwickeln können.

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[1]  FANNY UND ALEXANDER (Fanny och Alexander / Fanny et Alexandre), Schweden/BRD/Frankreich 1982, Regie und Drehbuch: Ingmar Bergman.
[2]  E. Dassmann: Kirchengeschichte I = Kohlhammer Studienbücher 10. Stuttgart-Berlin-Köln 2. Aufl. 2000, S. 234f.
[3]  Originalwortlaut: „Du würdest also Verheiratete dieses Übel [den Beischlaf; Anm.] nicht zügeln lassen, oder, wie du es nennst, dieses Gut? Du möchtest, dass die Eheleute ins Bett springen, wann immer sie wollen, wann immer die Lust sie kitzelt. Und diese Begierde sollte auch nicht bis zur Schlafenszeit verschoben werden, sondern dann scheint deine ,legitime Vereinigung der Leiber‘ stattfinden zu sollen, wenn dieses dein ,natürliches Gut‘ spontan erregt wird. Wenn du so dein Eheleben führst, dann bring deine Erfahrungen nicht in die Debatte.“ (Contra Julianum III 14;28).
[4]  Vgl. das ausführliche 10. Kapitel „Ihr seid gesegnet“ in: P. Bürger: Das Lied der Liebe kennt viele Melodien. Eine befreite Sicht der homosexuellen Liebe. Oberursel: 2001. (www.publik-forum.de/shop)
[5]  Vgl. P. Bürger: Drei schwule Geburtsansichten eines Christen. In: Mielchen/Stehling (Hrsg.), Schwule Spiritualität, Sexualität und Sinnlichkeit. Edition Waldschlösschen. Hamburg: MänneschwarmSkript 2001, S. 28-55.
[6]  Die „praktischen“ Vorteile der Abneigung gegenüber einer Theologisierung der Ehe sind freilich nicht zu übersehen. In den einschlägigen Dokumenten der evangelischen Landeskirchen, in denen schwule und lesbische Lebensformen behandelt werden, geht es ungleich rationaler zu als in den berüchtigten katholischen Traktaten.
[7]  Vgl. Deutsche Bischofskonferenz (Hg.): Als Mann und Frau schuf er sie“. Das Verhältnis der Geschlechter in Ehe und Familie. = Arbeitshilfen Nr. 155. Bonn 2001.
[8]  Vgl. P. Bürger: Dreieinigkeit unter Lesben und Schwulen. In: Publik-Forum Nr. 16/2003, S. 28-30.
[9]  Vgl. auch P. Bürger: Jenseits von Tuntenenergie und Tarot? In: Werkstatt Schwule Theologie 4/2004, bes. S. 359f.
[10]  Ohne Zweifel bewirkt auch der Wandel des vormals religiös geprägten Lebensgefühls eine Furcht, das durch Massenmedien propagierte Glücks-Optimum in einer festen Beziehung zu verpassen. Die in unserer Kultur verdrängte Sterblichkeit meldet sich im gehetzten Jagen nach der „letzten Gelegenheit“ wieder.
[11]  Murswieck, Axel: Gesellschaft. In: Lösche, Peter/Loeffelholz, Hans Dietrich von (Hg.), unter Mitarbeit von Anja Ostermann: Länderbericht USA – Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur = Schriftenreihe Bd. 401. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2004, 594-697.; US-Statistiken auch auf: http://www.divorcereform.org/rates.html .
[12]  Papst Johannes Paul II: Erinnerung und Identität – Gespräche an der Schwelle zwischen den Jahrtausenden (dt. Buchveröffentlichung für Februar 2005 angekündigt).
[13]  Offenheit dafür signalisiert der Titel eines – von mir nicht berücksichtigten Sammelbandes der Evangelischen Akademie Nordelbien: „Homosexualität – Herausforderung für die Familie“ (EB-Verlag 2000).
[14]  Vgl. dazu auch die theologischen Beiträge von Robert E. Goss, Ronald E. Long, Juliane Buenting und Jay Emerson Johnson in Heft 3/2004 der Werkstatt Schwule Theologie (11. Jahrgang).
[15]  Vgl. dazu z. B. Stefan Schmidtgall: „Was heißt hier schon promisk“. In: rik Nr. 3/2005, 18-20. Dieser Szene-Magazinbeitrag berichtet über die durch Erhebungen aufgezeigte Vereinbarkeit von Promiskuität und fester Partnerschaft. Eine Studie habe in diesem Zusammenhang herausgefunden, „dass homosexuelle Paare Beziehungsprobleme sachlicher austragen als die heterosexuelle Vergleichsgruppe.“ Unerwähnt bleibt allerdings, dass auch äußere Bedingungen diese „größere Sachlichkeit“ begünstigen.
[16]  Gegen das Gebot einer „verantwortlichen“ Sexualität, in der die Sorge für sich und für andere enthalten ist, mobilisiert die kath. Amtskirche noch immer – auch auf dem AIDS-geplagten Kontinent Afrika – ihre Theologisierung bzw. Verteufelung des Kondoms!
[17]  In Tirol gab (oder gibt) es zum Beispiel eine katholische Gegend, in der Paare erst beim ersten oder zweiten Kind heirateten, weil man das gegenüber der kirchlichen Regelung als erprobter ansah.
[18]  Gegenüber der viel barmherzigeren evangelischen oder orthodoxen Praxis betrifft das natürlich in erster Linie wieder die römisch-katholische Doktrin.
[19]  Für manche Menschen ist Sexualität z. B. auch Ausdruck freundschaftlicher Gefühle.
[20]  In diesem Zusammenhang ist wohl auch für heterosexuelle Beziehungen kaum ein allgemeines Nachlassen der Liebe zu den eigenen Eltern zu beklagen. Statt vordergründig auf Gebotspflichten zu rekurrieren, muss ein lebenskundiges Christentum m. E. vor allem auch auf die ökonomischen und massenkulturellen Ursachen für den Wandel des Generationenverhältnisses gucken.
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