Wer bist du, Mensch? Bist du nur Vertreter einer biologischen Art unter tausenden? Bist du durch eine blinde Evolution mit einem Gehirn ausgestattet worden, das dich zum Herrn über diesen Planeten macht? Musst du lediglich nach einer biologischen Programmierung deine Wünsche nach „immer mehr, immer größer, immer höher!“ verfolgen, bis die Begrenztheit des „Raumschiffes Erde“ nicht nur deiner sinnlosen Gier, sondern auch deiner Art ein Ende bereitet? Oder hat dein Leben einen Sinn, auch über das bloße Funktionieren hinaus?
Wenn diese Fragen dich bewegen, hast du schon die Antwort in der Hand, denn du erlebst damit, dass dein Geist mehr ist als ein Produkt und Instrument biologischer Daseinsbewältigung. Diese Fragen haben dich erst zum Menschen gemacht, zu einem Lebewesen, das nicht nur nach Woher und Wohin, sondern auch nach dem Sinn fragt und diesen Sinn damit schon bejaht. Du hast Dich auf den Weg zu einer Spiritualität begeben.
„Spiritualität“ ist heute ein modisches Wort, das vor 50 Jahren noch kaum benützt wurde. Viele reden von Spiritualität, aber es ist gar nicht leicht zu sagen, was dieses Wort bezeichnet. Kann man es hoffen, über ein so „modernes“ Thema gerade bei Jesus etwas Entscheidendes zu hören? Lassen wir uns überraschen! Auf eine Frage nach der wichtigsten Aufgabe des Menschen antwortete er mit einem Zitat aus dem 5. Buch Mose: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft“ (Mk 12,30; Dtn 6,4f).
Ein Vergleich mit dem Originaltext des Mose zeigt, dass Jesus in dieses Grundgesetz jüdischer Religion etwas Neues eingefügt hat, nämlich Gott zu lieben „mit all deinen Gedanken“! Warum dieser Zusatz, wenn schon aus der Erwähnung von Herz, Seele und Kraft jedem klar sein musste, dass hier eine totale Hingabe an Gott gefordert wird? – Mir scheint, dass Jesus hier genau das einfügte, was wir Spiritualität nennen, was für unsere Zeit auch dringend notwendig ist. Er betonte den Aspekt der Bewusstheit, auf den das Wort „Denken“ ausdrücklich hinweist! Wenn man mit diesem „ganzen Denken“ lieben kann, ist es auf keinen Fall ein Verstand, der kalt rechnend eigene Interessen durchsetzt, sondern vielmehr ein dialogischer Prozess, in dem man sich bewusst in einem größerem Zusammenhang und als Partner erfährt: Durch eine tiefere Wahrnehmung der umgebenden Wirklichkeit fühlt er sich von etwas Größerem angesprochen – und beantwortet diesen Anruf mit der Verantwortung seines Lebens im Angesicht dieses Größeren. Diese „Ansprache“ und die darauf folgende menschliche Antwort können natürlich (je nach Ort, Zeit, Kultur usw.) sehr verschieden sein.
Damit wäre das Wesentliche der Spiritualität schon gesagt. Die erwähnte dialogische Struktur legt uns nahe, dass der Mensch seine Spiritualität nicht „macht“, sondern eher „erlebt“. Damit will ich andeuten, dass er von Natur aus darauf vorbereitet ist, und dass diese Sinngebung seiner Existenz seinen Bedürfnissen entspricht. Diese innere Erfahrung macht ihn erst zum Menschen, weil sie ihm bewusst macht, dass sein Leben sich nicht in biologischen Prozessen erschöpft.
Wenn man von mir verlangt, die Spiritualität genau zu definieren, kann ich nur mit Umschreibungen antworten: Spiritualität ist ein offen-Sein für die Erfahrung von Zusammenhängen, die im täglichen „Kampf ums Dasein“ sonst leicht zu übersehen wären. Sie ist ein „Leben aus der Tiefe“, das sich nicht in der Verfolgung kurzfristiger Wünsche verliert, sondern auch den Sehnsüchten nach „Ganzheit“ Raum gibt. Sie ist damit eine Sinngebung und „Integration“, in der tausend notwendige Gedanken und Handlungen eines Menschen, die sonst zur Bedeutungslosigkeit zerfallen würden, zur Einheit kommen. Sie ist eine positive Möglichkeit, mit unserer Endlichkeit umzugehen, indem wir uns in Einheit mit einer größeren Wirklichkeit sehen, die unserem Leben seine Bedeutung verleiht. Eine solche Spiritualität ist die zeitgemäße Form der religiösen Haltung, die viel umfassender sein kann als das, was man früher "Frömmigkeit" genannt hat.
Spiritualität ist nicht Sache des Intellekts, die man mit Abhandlungen weitergeben könnte. Sie ist eine Beziehung, die mit Begriffen nicht ausgesagt, höchstens angedeutet werden kann. Sie muss direkt erfahren werden. Der Weg zu ihr heißt deshalb eigenes Suchen und Üben, d. h. meditierend sich in Zusammenhänge einüben, die sich auch dem Übenden erst nach und nach zeigen können. Spiritualität hat den Zweck, dem Leben zu dienen. Dem Leben aber dient nicht das, was bewiesen werden kann, sondern umgekehrt: was das Leben fördert, „bewahrheitet sich“ damit. – Andererseits ist aber unser Verstand darauf ausgerichtet, ständig nach Gründen zu fragen, was schließlich zum Fragen nach dem „letzten Grund“ und damit zu religiösen oder philosophischen Welterklärungen führt. Dieses Fragen lässt uns auch dann nicht los, wenn die Philosophen keine allseits anerkannten Antworten vorzeigen können. Manche behaupten, dass unser Bedürfnis nach Welterklärung lediglich ein bedeutungsloser Zufall der Evolution ist. Trotzdem sagt gerade dieses Bedürfnis etwas Wesentliches über den Menschen aus.
Wenn wir nach letzten Zusammenhängen oder auch nach dem Sinn des Lebens und des Universums fragen, geschieht es nicht ohne Grund, sondern es steht ein Lebensbedürfnis dahinter: Unser Denken braucht Sicherheit. Wir möchten unter allen Bedrohungen des Lebens uns daran festhalten, dass es gut ist zu sein, dass wir – auch ganz persönlich – nicht nur zufällig existieren, dass wir eine „Heimat“ haben. Die Philosophie ist, solange sie sich als eine Kunst des zweifelnden Fragens versteht, nicht geeignet, diese Heimat zu bieten. Sie muss erst die Grenze zur Spiritualität überschreiten, um als hilfreich erfahren zu werden. Der schon Vertrauende wird dabei dem Zweifelnden letztlich keine beweisbare Antwort geben können, – aber er schuldet ihm auch keine, um selber „glauben“, d. h. sich auf seine „Heimat“ verlassen zu können. Seine Antwort wird letztlich der Hinweis auf eine innere Überzeugung sein, – die aber dadurch gerechtfertigt ist, dass sie in den Wechselfällen des Lebens Bestand hat.
Eine Spiritualität gründet sich nicht auf Beweise, sondern auf innere Erfahrung. Der Weg zu dieser Erfahrung ist nichts anderes, als die Bewusstwerdung von etwas, was den meisten Menschen ohnehin klar ist, nur noch nicht richtig bedacht wurde. Die Schlüsselfragen zu dieser Bewusstwerdung könnten etwa lauten: „Hat Liebe für mich einen Sinn?“ oder „Haben Gut und Böse für mich eine Bedeutung?“
Obwohl solche Fragen für uns mehr als wichtig sind, sind sie einer rationaler Beweisführung unzugänglich. Um sie zu beantworten müssen wir zuerst aus unserer Ich-Zentriertheit heraustreten, die uns das eigene Leben als hinfällig, endlich und letztlich als sinnlos erfahren lässt. Diesem Gefühl der Sinnlosigkeit können wir mit dem größten Einsatz des Willens nicht entkommen, denn gerade dieser Einsatz wird uns im „Ich“ festhalten. Nur die Einfühlung in ein größeres Leben (d. h. die Liebe!) kann uns aus dem Bannkreis des „Ich“ hinausführen. Mit dem „Ich“ bleibt dann auch der Zweifler in uns zurück, der mit seinem zynischen „Na und?“ sich weigert, den Weg in die Heimat zu betreten. – Wer dann die Fragen nach Liebe und nach dem Guten tief genug in sich hineinlässt, kann beglückt den „Sinn“ erfahren, so dass er das Leben ganz neu sehen lernt.
Unsere Situation wird im Lukasevangelium durch eine kleine Episode beschrieben (Lk 10,38-42), wo zwei Schwestern den wandernden Lehrer, Jesus, in ihr Haus aufnehmen. Die eine, Marta, lässt sich ganz von der Aufgabe in Anspruch nehmen, die Gäste zu versorgen, während die andere, Maria, sich einfach hinsetzt, um von der Lehre Jesu nichts zu versäumen. Seine Stellungnahme ist eindeutig: „Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat das Bessere gewählt!“ – das aufmerksame Zuhören, das Suchen nach ihrer eigenen Spiritualität. Sie besteht einfach darin, alles im Zusammenhang mit etwas Größerem zu sehen – und dieses unbegreifbar Größere („Gott“) zu lieben „mit unserem ganzen Denken“.
Die Ausgestaltung dieser Spiritualität kann aber individuell sehr verschieden sein, weil sie das ganz reale Leben betrifft und sich im einmaligen Denken eines Menschen entfaltet. Nur er selber kann erzählen, was ihn ergriffen hat, was seinem Leben Sinn gibt und was er wie einen Schatz den anderen weitergeben möchte. In diesem Sinn war sogar die Gotteserfahrung Jesu „subjektiv“, wie auch die Menschen, die auch heute Ähnliches erfahren, „nur“ Subjektives berichten können. In der Sinnfrage unserer Existenz bezeichnet das Wort „subjektiv“ aber – nach meiner Überzeugung – nicht eine Einschränkung, sondern die größte Dichte der Gültigkeit einer solchen Erfahrung. Wer die Mühen eines spirituellen Weges auf sich nimmt, kann hoffen, am Ende etwas „End-Gültiges“ zu erfahren, auch wenn er dies anderen wieder nur in einer „subjektiven“ Weise mitteilen kann.
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