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Forum www.religion-und-spiritualitaet.de    Religion und Spiritualität    Glaube  ›  Bauen wir auf Erfahrung oder auf ein Bekenntnis? Moderatoren: Weber
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Bauen wir auf Erfahrung oder auf ein Bekenntnis?  Dieses Thema wurde bisher 4.361 mal gelesen. Thema ausdrucken Thema ausdrucken
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Sardy
05 Juli 2006, 21:29 Einem Moderator melden Einem Moderator melden
26 - 50 Beiträge
Beiträge: 30
„Zieh weg aus deinem Land!“

„Der Herr sprach zu Abram: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus!“ und ergänzte diese Aufforderung mit einem Versprechen: „Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen“ (Gen 12,1-3). Abraham verließ sich auf diese innere Erfahrung und nahm alle Konsequenzen einer heimatlosen Existenz auf sich. Mit seinem Auszug beginnt nicht nur die Geschichte der drei „abrahamitischen“ Religionen, sondern auch die Geschichte des bewussten spirituellen „Fortschritts“ überhaupt. Mit dem Weggehen aus der Sicherheit der eigenen Familie, Sippe, Land und Kultur, also mit einem Schritt der Emanzipation, wurde er zum „Vater aller Glaubenden“, zum Vorbild spirituellen Strebens. – Ähnlich verließ der junge Siddharta Gautama, der spätere Buddha, seine hohe soziale Stellung und machte sich auf einen Weg, dessen Ziel er noch nicht sah. Ähnlich verließ auch Jesus den Rückhalt seiner Familie, um das Leben eines Wanderpredigers zu führen.

Die gewohnte soziale und kulturelle Heimat bietet zwar einen sicheren Rahmen für das Leben, aber diese Sicherheit kann nicht für alle genügen, denn sie ist nicht förderlich für Freiheit, Fortschritt und Erneuerung. Wer sich auf den spirituellen Weg macht, muss deshalb bereit sein, sich auch von solchen Bindungen frei zu machen, die allgemein für „heilig“ gehalten werden.

Abraham hat natürlich nicht alles verlassen, denn er nahm nicht nur seine Zelte und Ausrüstung, sondern seine Muttersprache und Kultur mit. Er legte z. B. Wert darauf, die künftige Frau des Sohnes in der verlassenen Heimat suchen zu lassen. Seine erstrebte neue Freiheit stand also auf zwei Beinen: auf der Distanzierung von und auf einer Kontinuität mit der Heimat. Dies ist sehr zu bedenken, wenn wir seinen legendären Auszug als Vorbild des spirituellen Weges betrachten.

Mit der hier beginnenden Reihe von Betrachtungen suchen wir eine spirituelle Weltsicht, die in die Gedankenwelt unserer  postmodernen Kultur passt. Unser Ausgangspunkt ist – wie bei Abraham – ein „Verlassen des Vaterhauses“: Wir werden vom bekannten Glaubensbekenntnis ausgehen, seine Worte aber nicht als Fixierung ewig-gültiger Wahrheiten, sondern als zeitbedingten Ausdruck menschlicher Sehnsüchte unserer Vorfahren betrachten. Wir suchen das Herz des christlichen Bekenntnisses, das nicht offen zutage liegt. Wir müssen allerdings damit rechnen, es in einer solchen Tiefe zu finden, wo das „Herz“ aller Bekenntnisse, aller Religionen schlägt.

Das Bekenntnis, das Jesus nicht  formulierte

Die Frage nach dem „Bekenntnis“ (Konfession) Jesu ist schnell beantwortet: Er war ein gläubiger Jude. Eine Frage nach dem wichtigsten „Gebot“ der Religion hat er selber mit dem „Höre Israel“ beantwortet (Mk 12,28-31), das als Zusammenfassung des jüdischen Glaubens gilt.

Die Evangelien bieten keinen Hinweis darauf, dass er seine Lehre systematisch zusammengefasst hätte. Er hat nichts hinterlassen, was etwa mit den "Vier edlen Wahrheiten" oder dem „Edlen achtteiligen Pfad“ des Buddha vergleichbar wäre. Dies erweist sich aber nicht als ein Mangel, sondern als eine wesentliche Eigenschaft der Botschaft Jesu. Er hat sich nicht für eine Einsicht bzw. eine Lehre eingesetzt, sondern er wollte in den Menschen die Hoffnung auf ein Ereignis wecken! Sein Anliegen: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe“. Es war nicht eine Mitteilung, die zur Kenntnis zu nehmen war, sondern ein Angebot, das die Zuhörer zur Tat aufforderte: „Kehrt um und Glaubt an diese frohe Botschaft“, d. h. gebt eure gewohnten Vorstellungen auf und verlasst euch darauf, was ich sage! Dazu  passte, dass er nichts unternommen hat, um seine Worte aufschreiben zu lassen, obwohl er als Jude die Bedeutung der „Schrift“ sehr wohl gekannt hat. Vermutlich war ihm die Gefahr bewusst, dass die Menschen um einmal geschriebene „göttliche“ Worte einen Kult machen und dabei das Wesentliche vergessen.

Was hat Jesus mit diesem „Reich Gottes“ eigentlich gemeint? Die Antwort auf diese Frage kann nicht von einer späteren Theologie, sondern nur von der Situation der damaligen Zuhörer ausgehen, denn dieses „Reich Gottes“ war ihre Angelegenheit. Israel lebte zur Zeit Jesu unter der Besatzungsmacht der Römer, die nicht nur wirtschaftliche Ausbeutung, sondern auch eine kulturelle Unterdrückung und Demütigung der Menschen bedeutete. In dieser Situation war die ganze Sehnsucht des Volkes auf die Zukunft ausgerichtet, auf ein befreiendes Eingreifen Gottes, das „das Reich für Israel wiederherstellen“ (Apg 1,6) sollte. Die Apostelgeschichte bezeugt noch, dass die Botschaft Jesu genau diese Sehnsucht angesprochen hat. In seine Zuhörerschaft waren allerdings sehr verschiedene Vorstellungen darüber verbreitet, wie die ersehnte Zukunft sein sollte und was man für sie tun konnte. Die wirtschaftliche und politische Führungsschicht, die Sadduzäer, waren bemüht, das nationale Weiterleben durch kluge Kompromisse und Kooperation mit der Besatzungsmacht zu sichern, während die Untergrundbewegung der Zeloten („Eiferer“) lieber auf die Chancen eines bewaffneten Aufstandes setzte. Die Pharisäer erwarteten das Eingreifen Gottes von einem Tag, an dem das ganze Volk alle Vorschriften der „Thora“ erfüllt, die Essener dagegen bauten eher auf die Reinheit einer kleinen, auserwählten Gruppe.

Jesus trat in einer solchen Umgebung auf, schloss sich aber keiner der genannten Richtungen an, sondern forderte alle auf: „Kehrt um!“ , „Ändert euer Denken!“. In den Ideen und Bestrebungen seiner Zeitgenossen muss er also einen Fehler erblickt haben, den man nur mit einer „Umkehr“, mit einer völligen Richtungsänderung beseitigen konnte. Dies schließt für mich die Möglichkeit aus, dass Jesus mit dem Wort „Reich Gottes“ den gleichen Inhalt verbunden hätte wie die Mehrzahl seiner Zeitgenossen und – wie das spätere Neue Testament zeigt – auch die meisten seiner Jünger! Dies allein erklärt den Befund, dass der Begriff „Reich Gottes“ in den Evangelien sich jeder Definition entzieht: an manchen Stelle entspricht er durchaus dem damals verbreiteten apokalyptischen Erwartung („das Reich für Israel“), aber es gibt genügend Stellen, die damit überhaupt nicht in Einklang zu bringen sind. Wenn dem so ist, können wir das eigenste Anliegen Jesu zu Recht genau an den Stellen vermuten, wo die Texte von der „öffentlichen Meinung“ von damals abweichen. Wir können (und müssen!) dann konsequenter Weise alles, was diesen Texten widerspricht, für „Nebengeräusche“ der Übermittlung halten, also der erhitzten apokalyptischen Stimmung der nachfolgenden Generation und der Redaktionsarbeit der Evangelisten zuschreiben.

Besonders an zwei Stellen passt die Lehre Jesu „gar nicht in die Gegend“: „Als Jesus von den Pharisäern gefragt wurde, wann das Reich Gottes komme, antwortete er: Das Reich Gottes kommt nicht so, das man es an äußeren Zeichen erkennen könnte. Man kann auch nicht sagen: Seht, hier ist es!, oder: Dort ist es! Denn: Das Reich Gottes ist (schon) mitten unter euch.“ (Lk 17,20-21). Das „nahe“ Sein des Reiches Gottes hat er demnach nicht zeitlich verstanden, sondern in dem Sinn, dass es in der Reichweite seiner Zuhörer ist. Er verglich es in einem Gleichnis auch mit einer Perle oder mit einem verborgenen Schatz, den ein Mensch finden und mit dem Einsatz seines ganzen Vermögens erwerben kann (Mt 13,44-46). Er sprach dabei offenbar von einem suchenden Menschen, der (ganz individuell!) etwas derart Überwältigendes erlebt, dass er Kosten und Nutzen nicht mehr nüchtern abwägen kann, sondern sein ganzes Vermögen riskiert.  Dieses „Reich Gottes“ war für Jesus etwas, was sich auf der Ebene der persönlichen Betroffenheit ereignet, also eine persönliche Erfahrung, und nicht ein apokalyptisches Großereignis.

Genau das war es nämlich, was mit ihm selber geschehen ist: Er hat bei seiner Taufe plötzlich den Himmel offen gesehen und erlebt, wie der göttliche „Atem“ bei ihm ankommt und ihm ein neues Leben schenkt. Dieser „Atem“ trieb ihn dann in die Wüste, um sich Klarheit über das Erfahrene zu verschaffen und sein Leben danach auszurichten. Mit seinem Gleichnis vom Schatz im Acker spielte er auf ein solches Ereignis an und ermunterte seine Zuhörer, auch selber diese einmalige Erfahrung zu suchen und sich ganz auf sie einzulassen.

Jesus war anscheinend überzeugt davon, dass wenigstens einige seiner Zuhörer etwas Ähnliches erleben können wie er. Einem „Schriftgelehrten“ etwa, der sich zu den gleichen Werten bekannte, sagte er: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes!“ (Mk 12,34). Dieses „nicht fern sein“ kann hier kaum auf etwas anderes hindeuten, als auf die plötzliche und intensive Erfahrung der Nähe Gottes, die auch ihm selber bei seiner Taufe geschenkt wurde. Diese „große Erfahrung“, die alle seine Erwartungen nicht nur erfüllte sondern übertraf, bezeichnete er anscheinend mit dem Ausdruck „Reich Gottes“. So erklärt sich auch am einfachsten, warum er im Zusammenhang mit diesem „Reich Gottes“ öfter vom „Eingehen“ sprach, also von einem persönlichen Akt. Diese Deutung wird auch durch die Beobachtung gestützt, dass er diese höchste Erfüllung menschlicher Wünsche keineswegs konsequent als „Reich Gottes“ bezeichnete, sondern sie genau so gut auch mit „Leben“, „Hochzeit“, „Freude deines Herrn“ u. a. umschreiben konnte! (Mk 9,42-47; Mt 25,10; 25,21.23)

Was ist das Gemeinsame an diesen Bildern? Es ist die Sehnsucht nach einer Zukunft, die anders sein sollte als der bedrückende Alttag – und für diese Sehnsucht stand damals das Wort „Reich Gottes“. Die Botschaft Jesu: „Auf diese Zukunft könnt ihr euch verlassen, denn sie ist schon da, mitten unter euch. Habt Vertrauen, dass auch ihr diese Zukunft erlebt!“ – Dieses Vertrauen war der Glaube, den er von seinen Zuhörern verlangt hat, ohne die erhoffte Zukunft näher zu bestimmen.

Der Inhalt eines solchen „Glaubens“ war natürlich nicht geeignet, in eine Bekenntnisformel gefasst zu werden. Das „Reich Gottes“ ist unsere erhoffte Zukunft, die (von Gott her) kommt und schon jetzt für uns bereit steht. Diese Zukunft können wir, wenn wir uns IHM anvertrauen, Tag für Tag als Geschenk erleben. Es ist aber ein Geschenk, das sich nicht festhalten und konservieren lässt. Dies ist für uns zunächst eine schlechte Nachricht, die in der „guten Nachricht“ Jesu enthalten ist: Über die Ankunft des „Reiches Gottes“ bekommen wir keine Sicherheit. Uns bleibt – wie schon Abraham – nichts als das eigene Vertrauen, an dem wir uns festhalten können. Jesus hat kein Glaubensbekenntnis formuliert, damit wir nicht Gefahr laufen, in einer richtigen („wahren“) Formel Sicherheit zu haben.

Aus der Erfahrung wurde Bekenntnis

Menschen sind allerdings so gebaut, dass sie ihre Zukunft nicht einfach Gott überlassen können, sondern sie möglichst selber sicherstellen wollen. Wir „konservieren“ gern, was wir haben, damit wir auch morgen keinen Mangel leiden. Erstaunlich genug, dass Jesus seinen Hörern gerade dieses lebensnotwendige „Sorgen um morgen“ ausreden wollte. Er wollte nichts anderes, als dass die Menschen in jedem Augenblick ganz im Vertrauen zum „Vater“ leben, denn „jeder Tag hat genug eigene Plage“ (Mt 6,25.28.31). Verstehen wir überhaupt, was er damit erreichen wollte? Seine Jünger haben es wahrscheinlich nicht verstanden oder es bald wieder vergessen. Die junge Kirche war eher damit beschäftigt die Erinnerungen an Jesus festzuhalten, als sie mit dem eigenen Leben zu konfrontieren. Sie sammelte die Jesusworte, damit sie sie hat und sich mit ihnen Mut macht „bis er wiederkommt“. Das „Reich Gottes“, das nach Jesus in jedem Augenblick bereits „mitten unter ihnen“ war und nur angeeignet werden musste, ist dabei aus ihrem Blickfeld verschwunden. Seine zentrale Rolle übernahm sehr bald „die Wahrheit“, die man haben konnte, sogar auf Kosten der Liebe.

Es bleibt trotz dieser Entwicklung festzuhalten: am Anfang der christlichen Bewegung standen nicht irgendwelche Sätze, sondern eine große Erfahrung Jesu. Natürlich musste er dann geeignete Ausdrücke finden, die zu seiner Erfahrung passten, aber seine „Frohe Botschaft“ war nicht dazu da, eine ähnliche Erfahrung zu ersetzen oder sogar entbehrlich zu machen. Wir haben noch genügend Spuren, um die gleiche Struktur einer „Offenbarung“ auch in den ersten christlichen Generationen zu erblicken: es ist das entscheidende Doppel-Ereignis, das auch für Jesus das „Eingehen in das Reich Gottes“ gekennzeichnet hat, nämlich das Erleben einer göttlichen Wirklichkeit und eine radikale Verwandlung des damit beschenkten Menschen. Hier genügt es, auf diese Spuren nur kurz hinzuweisen:

Die große Erfahrung der Apostel Jesu war zweifellos ihre Begegnung mit dem Auferstandenen. Was sie dabei – in sich – erlebt haben, war nicht zu beschreiben, aber es gab ihrem Leben einen ganz neuen Sinn und Inhalt. Genau so unbeschreiblich war auch die große Erfahrung eines jungen Eiferers, die aus einem Saulus den Apostel Paulus gemacht hat. Und eine ähnlich entscheidende große Erfahrung steht im ersten Brief des Johannes wenigstens klar angedeutet: „Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch“ (1Joh 1,3). – So verschieden die Menschen waren, die dies erlebt haben, so verschieden waren auch ihre Gedankengänge und Probleme. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass auch ihre Botschaften jeweils andere Schwerpunkte und Ausdrucksformen zeigen und sogar Elemente aufweisen können, die der ursprünglichen Botschaft Jesu fremd sind. Eine Entwicklung und Veränderung der „christlichen Botschaft“ nach Jesus ist im Neuen Testament nicht zu übersehen.

Eine sprachlich formulierte Botschaft ist notwendig, um einmal gemachte spirituelle Erfahrungen weitergeben zu können. Das ist der Grund, warum aus ursprünglichen religiösen Erfahrungen Glaubensbekenntnisse entstehen mussten. Diese Glaubensformeln, die wahrscheinlich von „Geist-erfahrenen“ Leitern von Gemeinden geschaffen und bei der feierlichen Taufe mit den „neu geborenen“ Gläubigen gesprochen wurden, sollten dazu dienen, die Kraft des erlebten Glaubens weiter zu geben, damit die „Frohe Botschaft“ auch kommende Generationen erreicht. Sie konnten die Weitergabe dieses „Lebens“ dokumentieren, so lange das „Feuer“ der vom Geist Ergriffenen durch diese Worte eine Verbindung mit dem Erlebten sichern konnte. Aber mit der Zeit verliert jedes Feuer an Kraft und droht zu verlöschen. Sobald mit einem Bekenntnis nur noch überkommene Worte weitergegeben wurden, musste auch seine Abnutzung eintreten: Aus dem erlebten „Heil“ wurde eine „Heilslehre“, an die Stelle einer lebendigen Gotteserfahrung trat eine „Lehre über göttliche Dinge“ („Theo-logie“). Von einem solchen Zustand sagte der Apostel Paulus: „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (1Kor 3,6).

Nachdenken über das „Apostolische Glaubensbekenntnis“

In einer solchen Situation stehen wir heute da. Wir stellen fest, dass Jesus selbst (vermutlich bewusst) kein Bekenntnis formuliert hat, dass die Kirche nachher verschiedene Bekenntnisse festgelegt hat und für heilig hält, und dass das Glaubensbekenntnis in heutigen Gottesdiensten oft nur noch mit einem gewissen Unbehagen „mitgebetet wird“, da seine Aussagen den Menschen fremd und unverständlich geworden sind. Diese Feststellungen legen uns nahe, über den Stellenwert des Glaubensbekenntnisses nachzudenken.

Wie Abraham in seiner Sprache und Kultur, so sind wir in der christlichen Gedankenwelt aufgewachsen. Wenn auch wir nun – wie Abraham – den Ruf hören, aus dieser Heimat wegzuziehen, kann die damit notwendig gewordene Distanzierung keinen radikalen Bruch bedeuten: wir werden es nicht anders können, als unserer fortdauernden Verbindung mit dieser geistigen Heimat bewusst zu bleiben. Da die alten Glaubensbekenntnisse die spirituellen Erfahrungen unserer Vorfahren zusammenfassen, da wir mit ihnen aufgewachsen sind und ihnen in unserer kulturellen Tradition ständig begegnen, werden wir sie zum Leitfaden unserer Überlegungen machen. Wir werden sie freilich nicht anders behandeln können als Mitbringsel aus einem unwiederbringlich verlassenen „Vaterhaus“: sie markieren eine Vergangenheit, aus der wir kommen, während der „Geist“ uns auf der Suche nach neuem Leben „in die Wüste“ führt.

Das bekannteste Glaubensbekenntnis wird „apostolisch“ genannt und erhebt damit den Anspruch, dass sein Inhalt direkt auf die Apostel und durch sie auf Jesus zurückgeht. Diese Bezeichnung verlangt von uns eine Achtung, aber die Ehrlichkeit verlangt auch, dass wir unsere Gründe aussprechen, die uns eine gewisse Distanzierung von diesem Text nahe legen. Wir vermissen, dass diese „apostolische“ Zusammenfassung uns gar nichts über das tatsächliche Leben Jesu mitteilt, außer dass er von einer Jungfrau geboren und „unter Pontius Pilatus“ getötet wurde. Wozu sollte denn Jesus seine Apostel ausgebildet haben, wenn diese später gar nicht mehr für erwähnenswert gehalten hätten, wofür er sich eingesetzt hat? Könnte ein solcher Text das Produkt der für die Weitergabe seiner Botschaft ausgebildeten Apostel sein?

Wir brauchen auch gar keine „apostolische Tradition“, um die Lehre Jesu auf die „einzig richtige Weise“ verstehen zu können. Wenn seine Botschaft eine Bedeutung für alle Zeiten haben soll, muss sie ja auch für alle Zeiten eigene Antworten bereit halten. Ihre Anregungen müssen dann auch immer wieder über das Verständnis früherer Generationen hinausgehen können, so dass jede Generation Jesus irgendwie „besser“ verstehen kann als die vorangehende, nämlich vor dem Horizont des eigenen Lebens und Denkens. Dies begründet unser ureigenes Recht, in den Worten Jesu nach unseren Anliegen zu suchen und sie auch zu finden, um durch sie angeregt unser Leben auf eigene Verantwortung zu leben. Nur damit können wir dem einfachen Menschensohn Jeschua wirklich folgen, der seine „ewig gültige“ Frohbotschaft auch nur in der historischen Einmaligkeit (und damit Begrenztheit!) eines galiläischen Handwerkers und Lehrers des ersten Jahrhunderts erleben und aussprechen konnte.

So lange die menschliche Geschichte weiter geht, kann deshalb auch die „Offenbarung“ nicht zu einem Ende gekommen sein. Auch die Bibel macht nicht den Eindruck eines abgeschlossenen Werkes; in ihr ist nicht nur die Entwicklung von Ideen unübersehbar, in ihr kann man auch einander widerstreitende Tendenzen beobachten, die noch keineswegs zu einer Synthese gebracht worden sind. Die Entwicklung der Ideen ist weder im Alten, noch im Neuen Testament zu einem Abschluss gekommen. Weder Jesus hat alles schon gesagt, was Menschen „Heil“ bedeuten kann, noch seine Apostel haben von ihm alles Notwendige bekommen und es nur noch treu überliefern müssen. Da die Situation der Anhänger Jesu schon nach seinem Weggang nicht mehr die gleiche war, mussten sie auch eine „neue Spiritualität“, einen „neuen Glauben“ entwickeln und haben es tatsächlich auch getan: der Glaube der Urkirche war in manchen Beziehungen neu und keineswegs damit identisch, was Jesus als „frohe Botschaft“ verkündet hat.

Alles deutet darauf hin, dass es für Menschen auch seitdem keinen anderen Weg gibt, in veränderten Zeiten mit neuen Denkweisen trotzdem das Gleiche zu erfahren, was Jesus einmalig erlebt und ebenso einmalig (und keineswegs notwendig!) als „Reich Gottes“ bezeichnet hat. Ich bin überzeugt, dass die gleiche spirituelle Erfahrung auch uns heute erreichbar ist, aber ihre Ausdrucksformen können dabei nicht die gleichen bleiben. Die Kultur unserer Zeit, die mit all ihren Stärken und Schwächen sich viel von früheren Zeiten unterscheidet, hat das gleiche Recht, die „Geschichte Gottes mit den Menschen“ innerhalb der eigenen Gedankenwelt zu verstehen und fortzusetzen.

Die Menschen haben die „gute Nachricht“ (Evangelium) immer schon auf sehr verschiedene Weise gesehen und erlebt. Die Gestalt Jesu erwies sich im Laufe der Geschichte als eine große Projektionsfläche für drängende Anliegen der Menschen. Es gibt zwar kritische Geister, die diesen ganzen „Kosmos“ menschlicher Bemühungen mit der Bemerkung abzuwerten bereit sind: „Jeder macht sich doch seinen Jesus selber!“ Aber ein solches Schlagwort kann weder der Ernsthaftigkeit der Suchenden noch dem Erfolg dieser weltumfassenden Bewegung in irgend einer Weise gerecht werden. Viel treffender fände ich die Formulierung: In der Gestalt und in den Worten Jesu hat der „Schöpfer und Vater der Menschen“ seinen Kindern eine ideale Anregung geschenkt, die ihnen in den verschiedensten Situationen helfen kann, im Rahmen ihrer Möglichkeiten Antwort auf entscheidende Fragen ihres Lebens zu finden.

Ich bin überzeugt, dass wir der Botschaft Jesu keine Gewalt antun, wenn wir in ihr heute auch solche Aspekte entdecken, an die der Mensch Jeschua vor 2000 Jahren noch nicht hätte denken können. Die Ehrlichkeit verlangt nur jeweils festzuhalten, dass es unsere Gedanken sind, aber wir meinen berechtigt zu sein, mit ihnen die überlieferte Botschaft Jesu „weiter zu denken“. In diesem Punkt ist unsere Situation gar nicht wesentlich anders als die der ersten christlichen Generationen, denen wir die Schriften des Neuen Testaments verdanken.

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