Forum Einloggportal
Loginname: Einen Zugang registrieren
Passwort:     Passwort vergessen?

Forum www.religion-und-spiritualitaet.de    Religion und Spiritualität    Vaterunser  ›  „Vergib uns unsere Schuld!“ Moderatoren: Weber
Mitglied(er) im Forum
Keine Mitglieder und 2 Gäste

„Vergib uns unsere Schuld!“  Dieses Thema wurde bisher 2.560 mal gelesen. Thema ausdrucken Thema ausdrucken
1 Seiten 1 Thema empfehlen
Sardy
16 Juli 2006, 16:11 Einem Moderator melden Einem Moderator melden
26 - 50 Beiträge
Beiträge: 30

„Vergib uns unsere Schuld!“  -  Das wahre Drama menschlicher Schuld

Da die Frage der Schuld in den überlieferten Glaubensvorstellungen von Christen einen sehr breiten Raum einnimmt, müssen wir uns mit diesem Punkt ausführlicher auseinander setzen.

Was hielt Jesus von menschlicher Schuld?

Es ist nicht notwendig, hier näher darauf einzugehen, was alles im Alten Bund - etwa nach dem Buch Deuteronomium - den Menschen vor Gott unrein gemacht oder sogar die Todesstrafe verdient hat. Die starke Betonung des Schuldgefühls dient in manchen Religionen offenbar dem gleichen Zweck, wie im zwischenmenschlichen Bereich (etwa in der Erziehung), wo es den „Schuldigen“ immer schon gefügig zu machen hatte. Wenn jemand davon ausgeht, dass Jesus - als gläubiger Jude - selbstverständlich die gleiche Haltung hatte, der wird hier seine große Überraschung erleben.

Was die Schuldhaftigkeit der Menschen betrifft, gibt es heute zwei gegensätzliche Anschauungen. Die erste und unter Christen traditionell verbreitete pflegt ein ziemlich pessimistisches Menschenbild und kann sich dabei  auf biblische Texte berufen. Die zweite spiegelt das moderne Lebensgefühl, das Schuld möglichst nicht wahrhaben will.

Ich will hier nur auf das negative christliche Menschenbild eingehen. Die starke Betonung der Sünde im Christentum (angefangen mit der Lehre über die Erbsünde) geht auf den Apostel Paulus zurück, der im Brief an die Römer die Sünde personifiziert und damit zu einer mythologischen Größe stilisiert hat. An diese „Sünde“ sah er sich und die anderen "verkauft" und schrieb von den Christen, dass sie „aus der Macht der Sünde befreit und zu Sklaven Gottes geworden sind“ (Röm 7,14 u. 6,22). Ich sehe allerdings mit Befremden, dass er dabei die Menschen als Spielbälle zweier Mächte darstellt, als hätten sie keine Freiheit und Verantwortung. Und ich finde es völlig unangemessen, wie er der personifizierten „Sünde“ die gleiche Herrschermacht zuschreibt wie Gott. - Ich frage deshalb jetzt, ob Jesus über die menschliche Schuld ähnlich wie Paulus gedacht haben könnte?

Sooft Jesus über Schuld sprach, meinte er keine fremde Macht, die den Menschen beherrschen würde, sondern zunächst eine Angelegenheit von Menschen, die ihre Beziehungen zu einander und zu ihrem Schöpfer vergiftet. Was Gott mit menschlicher Schuld zu tun hat, schilderte er einfach so: „Ein Geldverleiher hatte zwei Schuldner; der eine war ihm fünfhundert Denare schuldig, der andere fünfzig. Als sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten, erließ er sie beiden.“ (Lk 7,41-4. In dieser Beschreibung ist wahrhaftig kein Platz für irgendeine Mystifizierung der Sünde, als wäre sie eine mit Gott konkurrierende Macht, die die Menschen unterjocht und aus deren Herrschaft sie zu erlösen wären!

Auch die Menschen zeichnete Jesus längst nicht so negativ wie Paulus, als könnten sie von sich aus nichts Gutes tun. Er beschrieb zwar realistisch, wie die Menschen sind, - aber das war lediglich der Hintergrund seiner Botschaft über die beglückende Liebe Gottes. Von seinen Zuhörern hat er dabei vorausgesetzt, dass sie imstande sind „umzukehren“, ihre ganzen Lebenshaltung zu ändern.

Hier können wir beobachten, wie stark Menschenbild und Gottesbild zusammenhängen. Menschen der Antike haben ihre Erfahrungen mit autoritären Herrschern leicht auf ihre Gottheiten projiziert, die dann auch manche Züge von Gewaltherrschern bekamen. Ein solcher Gott konnte dann Widerspruch genau so wenig dulden wie ein Diktator. Jeglicher Ungehorsam musste bei ihm als Majestätsbeleidigung gelten und mit dem Tod bestraft werden. Diese Projektion finden wir im Alten wie im Neuen Testament gar nicht selten, bis zur Deutung des Todes Jesu als Sühnopfer bei Paulus. Sie wurde sogar in das Gleichnis Jesu vom königlichen Hochzeitsmahl eingefügt: „Da wurde der König zornig; er schickte sein Heer, ließ die Mörder töten und ihre Stadt in Schutt und Asche legen“ (Mt 22,7).  Solche Aussagen sind mit der „Frohen Botschaft“ Jesu über Gott als Vater offensichtlich unvereinbar.

Jesus hat Gott konsequent als mütterlichen Vater geschildert, dem die menschliche Schuld nicht als „Beleidigung Seiner Majestät“ von Bedeutung ist. Die Schuld „beschäftigt“ ihn vielmehr, weil sie die Trennung seiner geliebten „Kinder“ von ihm bedeutet, die er sucht, „bis er sie findet“ (Lk 15,4). Natürlich wusste Jesus, dass man Gott nicht sehen und sein Wesen nicht beschreiben kann, - und trotzdem war er sicher, dass er den Menschen genau mit diesen Worten sagen musste, wie der unbegreifliche Gott zu ihnen steht! Er betonte, dass Gott jederzeit zur Vergebung bereit ist, und deshalb die Beseitigung der menschlichen Schuld eine realistische menschliche Aufgabe bleibt.

Was Jesus von der Schuldhaftigkeit der Menschen hielt, beschrieb er mit einer Geschichte:  „Zwei Männer gingen zum Tempel hinauf, um zu beten; der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stellte sich hin und sprach leise dieses Gebet: Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher ... - Der Zöllner aber blieb ganz hinten stehen und wagte nicht einmal, seine Augen zum Himmel zu erheben, sondern ... betete: Gott sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser kehrte als Gerechter (d. h. versöhnt) nach Hause zurück, der andere nicht." (Lk 18,10-14)

Da der Pharisäer - trotz seines betont guten Gewissens - nicht als Gerechter nach Hause ging, meinte Jesus offenbar, dass vor Gott jeder Mensch irgendwie „in der Kreide steht“, bevor er zu einem „Gerechten“ wird. - Was war nun der wesentliche Unterschied zwischen diesen Männern? Der Zolleintreiber wurde von der Schuld befreit, weil er seine Schuld sah, anerkannte und sich von ihr distanzierte; der Pharisäer dagegen konnte oder wollte bei sich keine Schuld sehen und behielt sie deshalb. Wenn diese Geschichte von zwei Menschen redet, heißt es aber noch nicht, dass Jesus damit die Menschen in zwei Gruppen einteilen wollte, die dann entweder „Pharisäer“ oder „Zöllner“ wären. Durch diese zwei Gestalten hat er genau so gut auch verschiedene Seelenzustände des gleichen Menschen beschrieben, der in einer Beziehung sieht, dass er nicht „in Ordnung ist“ und bereut seine „Schuld“, und in einer anderen Beziehung dazu (noch) nicht imstande ist.

Wir sehen daraus, dass Jesus in der Frage nach Schuld und Vergebung die Menschen zunächst zu einer ehrlichen Selbsterkenntnis aufforderte. Wer die Worte „Vergib uns unsere Schuld“ ausspricht, hat deshalb nicht nur an Taten zu denken, die er kennt und bereut. Er muss auch bedenken, ob bei ihm nicht irgendwo „im Schatten“ noch etwas steckt, worauf er vielleicht sogar stolz ist, was aber trotzdem verhindern könnte, dass er „als Gerechter nach Hause geht“! Deshalb ist es für jeden entscheidend, nicht nur – wie der Zöllner – seine bekannten Sünden zu bereuen, sondern sich auch zu bemühen, in bisher unbewusste Ecken der eigenen Seele hinein zu leuchten – was der Pharisäer versäumt hat.

Damit soll er aber nicht ein Gefühl der Minderwertigkeit pflegen, sondern richtig mit sich und mit anderen umgehen lernen. „Als Gerechter nach Hause gehen“ heißt dann, sich realistisch sehen (mit allem Dunklen und Hellen), aber gleichsam mit den Augen des Schöpfers, der die Menschen geschaffen hat, wie sie sind, und sie auch liebt, wie sie sind, also nicht weil sie besonders liebenswürdig wären, sondern weil Er die Liebe ist. Die eigene „Schuld“ vor einem solchen Schöpfer nüchtern zu sehen bedeutet keineswegs, sich zu erniedrigen, sondern realistisch eine Lebensaufgabe zu entdecken, die darin besteht, den „Erwartungen“ dieses Schöpfers besser zu entsprechen. Es genügt nämlich nicht, in sich selbst „das Licht von der Finsternis zu scheiden“ und gleichsam mit stoischem Gleichmut beide anzunehmen. Es gilt auch, für Beides die Verantwortung zu übernehmen, - und ganz besonders dafür, wie sie sich in den Beziehungen zu anderen Menschen auswirken.

Dramatik der menschlichen Schuld        

Wissen wir überhaupt, was es bedeutet, dass die Menschen „verloren“ sind und von Gott gesucht werden? – Mir fiel nur auf, dass Jesus nicht müde wurde, immer wieder von den Aufgaben der Menschen zu reden. Deshalb ist es richtig, auch diese Frage von der menschlichen Seite her anzugehen. Hinter dem Wort „Schuld“ sehe ich den Gedanken, dass jemand etwas „schuldet“, also etwas tun oder geben soll, und solange er es nicht tut, bleibt er „schuldig“.

Aber wer bestimmt denn, was jemand „schuldet“? Könnte es Gott persönlich sein? Dann wäre die alte Vorstellung richtig, dass alle Versäumnisse (Sünden) der Menschen in einem himmlischen Buch aufgezeichnet oder sonst irgendwie gespeichert sind, um für eine Endabrechnung bereitzustehen. Sehr beunruhigend wäre dabei, dass der „arme Sünder“ seine gesammelten Daten nicht kennt und deshalb über seinen Kontostand im Ungewissen ist! – Da diese Vorstellung nicht zu der von Jesus betonten Eigenverantwortung der Menschen passt, ist es wohl zutreffender zu sagen, dass nicht Gott persönlich, sondern die von ihm geschaffenen Verhältnisse bestimmen, was jemand ganz konkret „schuldet“. Auf diese Weise hat jeder Mensch wenigstens die Möglichkeit zu erkennen, was er tun soll, bzw. was er versäumt hat.

Gibt es einen Menschen, der niemandem etwas „schuldig“ ist? – Das wäre nur in einem Paradies, in einem Garten des Überflusses denkbar, wo kein Tier einem anderen wehtut, weil alle permanent befriedigt sind. In unserer realen Welt befinden sich aber alle in Konkurrenz zueinander. Und nicht nur die einzelnen Lebewesen gehen ihren gegensätzlichen Interessen nach; es besteht sogar im Inneren eines Menschen ein Kampf der Gegensätze, - und dies scheint sogar eine wesentliche Bedingung des menschlichen Bewusstsein zu sein. Während das Verhalten der Tiere durch die jeweilige Situation und durch ihre Instinkte weitgehend bestimmt ist, scheint menschliches Bewusstsein darin zu bestehen, dass wir der vielfältigen Gegensätze eigener Triebe, Strebungen und Wünsche inne werden und versuchen müssen, hier eine Wertung und Auswahl zu treffen und diese Wertung auch durchzusetzen.

In der biblischen Schöpfungsgeschichte steht: „Dann sprach Gott, der Herr: Seht, der Mensch ist geworden wie wir (Gott ähnlich geworden); er erkennt Gut und Böse.“ (Gen 3,22). Gut und Böse Erkennen ist ein Bewusstsein von Werten, die im Gewissen verpflichten. Ein solches Bewusstsein bringt natürlich den Verlust des Paradieses, denn jede Entscheidung fällt nicht nur für etwas, sondern gleichzeitig auch gegen alles andere aus, z. B. auch gegen abweichende eigene Wünsche oder gegen Interessen von anderen. Es lässt sich überhaupt nicht vermeiden, dass der Mensch irgendwo „schuldig“ wird. Und das Drama des Schuldig-Werdens spielt sich in erster Linie nicht zwischen Gott und Mensch, sondern zwischen Menschen und in den einzelnen Menschen ab.                
Was eigene Schuld ist, erlebt jeder, der etwas tut, womit er sich selber schadet, oder etwas, weswegen andere sich von ihm abwenden. Noch leichter erlebt er natürlich die Schuld der Anderen, wenn sie ihn in irgendeiner Weise verletzen. In jedem Fall zeigt sich das Wesen der Schuld darin, dass eine Beziehung gestört oder sogar zerstört wird, und das verursacht natürlich Angst. Wir sind ja so stark auf Hilfe, Beistand und Anerkennung durch andere angewiesen, dass wir jede Störung unserer Beziehungen als Bedrohung erleben und darauf mit Schuldgefühlen reagieren. Trotzdem sollten wir sorgfältig zwischen Schuld und Schuldgefühl unterscheiden, denn es gibt sowohl unerkannte Schuld wie auch unbegründete Schuldgefühle! Schuld vor Gott setzt immer voraus, dass ein Mensch bewusst etwas Geschuldetes versäumt bzw. etwas gegen die Lebensinteressen anderer tut.

Man könnte fragen, warum wir hier die Schuld nur als eine Angelegenheit von Menschen behandeln. Ist Sünde nicht vor allem eine Beleidigung Gottes? – Aber wie könnte ein Mensch dem unendlichen Schöpfer verletzen? Oder wie könnte er die Liebe eines Gottes zurückweisen, dem er direkt nicht begegnen kann? Wenn unsere Taten auf Gott bezogen sind, dann deshalb, weil  wir mit  Menschen zu tun haben, die dieser Gott liebt, der sich vor allem mit den Schwachen und Unterdrückten identifiziert. (Schon bei der Offenbarung des Gottesnamens sagt er: „Ich habe das Elend meines Volkes gesehen und bin herabgestiegen“ Ex 3,7f).

Wir können auch beobachten, dass die biblischen Umschreibungen der Sünde (Böses Tun, Unrecht, Untreue, Ungehorsam, Vergehen usw.) regelmäßig aus dem menschlichen Bereich stammen. Wenn die Propheten den Abfall ihres Volkes von Gott beklagen, sprechen sie auch durchweg von sozialen Sünden: „Es gibt keine Treue und keine Liebe und keine Gotteserkenntnis im Land. Nein, Fluch und Betrug, Mord, Diebstahl und Ehebruch machen sich breit“ (Hos 4,1f). Sie lassen freilich keinen Zweifel daran, dass diese Taten nicht Kleinigkeiten, sondern Beleidigung des Höchsten sind.

Bekehrung zur Verantwortung

Es ist sehr auffällig, dass Jesus keine Theologie der Sünde gepflegt hat. Er war sicher, dass die letzte Beurteilung menschlicher Taten dem „Vater“ zusteht, und gegenüber diesem Vater ist niemals die Gewissensangst, sondern nur das Vertrauen begründet!
                                   
Anstatt von einem strafenden Gott zu reden stellte Jesus die Verantwortung der Menschen in den Vordergrund: Wenn sie täglich die Güte ihres Schöpfers erfahren, sollen sie sich den Mitmenschen gegenüber genau so verhalten. Dies ist freilich alles andere als einfach. Jesus war überzeugt, dass die Menschen vor Gott erst dann „in Ordnung“ kommen können, wenn sie ihr „normales“ Denken ändern. Der Angelpunkt seiner Botschaft (in unseren Übersetzungen „Tut Buße!“ oder „Bekehrt euch!“) heißt wörtlich „Kehrt um!“, wendet eure Gedanken, Bestrebungen und Taten genau in die umgekehrte Richtung wie bisher!

Dieses Umdenken zeigt sich gut in der einzigen Bekehrungsgeschichte, die in den Evangelien ausführlich beschrieben ist (Lk 19,1-10): Der Erfolgsmensch Zachäus, der sich bisher ohne Rücksicht auf andere ein Vermögen gemacht hat, verändert sein Denken. Als er seine Schuld erkennt, schaut er nicht erschreckt zurück und sagt ichbezogen: „Was habe ich getan!“  Statt dessen denkt er an die Anderen, die immer noch unter den Auswirkungen seiner Taten leiden. Er sagt: „Die Hälfte meines Vermögens will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück“! Es ging ihm also nicht darum, der möglichen Strafe Gottes zu entgehen. Es wurde ihm klar, dass Schuld vor allem Verantwortung für die Folgen bedeutet, und er stellte sich dieser Verantwortung. Deshalb hat auch Jesus kein Wort über seine vergangene Schuld verloren. Er stellte nur fest: „Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden“.

Und wo bleibt die Gerechtigkeit?

Ist es nicht ungerecht, dass die eigene Schuld durch Vergeben so leicht aus der Welt zu schaffen ist? Uns fällt es besonders schwer, geschehenes Unrecht zu vergeben und zu vergessen. Deshalb liegt es uns – wie auch manchem biblischen Schriftsteller – nahe, auch Gott vor allem als den Gerechten zu denken: „Es entspricht der Gerechtigkeit Gottes, denen mit Bedrängnis zu vergelten, die euch bedrängen“ (2Thes 1,6)! Die gleiche Überzeugung sprach auch Paulus im Römerbrief aus: „Rächt euch nicht selber, liebe Brüder, sondern lasst Raum für den Zorn (Gottes); denn in der Schrift steht: Mein ist die Rache, ich werde vergelten, spricht der Herr“ (Röm 12,19).

Jesus hat aber deutlich von einem ganz anderen Gott gesprochen: Sein „Vater“ kennt keinen Gedanken an Rache! Dies ist sogar im Gleichnis vom unbarmherzigen Schuldner klar: Ein König erlässt einem Diener die unvorstellbar hohe Schuldsumme von zehntausend Talenten. Als dieser nun hinausgeht und jemanden trifft, der ihm nur hundert Denare schuldig ist, bedrängt er ihn und lässt ihn ins Gefängnis werfen. Als der König dies erfährt, lässt er ihn rufen und sagt ihm: „Du elender Diener! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen. Hättest nicht auch du mit jenem Erbarmen haben müssen? (Mt 18,23-33).  Damit betont Jesus den Kontrast im Verhalten des Königs und des Dieners. (Die folgenden Verse 34-35 „Und in seinem Zorn übergab ihn der Herr den Folterknechten, bis er die ganze Schuld bezahlt habe“ vernichten diesen Kontrast und erweisen sich damit als spätere Ergänzung. Sie verkehren das von Jesus hier dargestellte Gottesbild ins Gegenteil. Sie sind kein „Jesuswort“, nur ein weiterer Beleg für das menschliche Bedürfnis nach gerechtem Vergelten.)

Der von Jesus dargestellte König denkt von sich aus nicht an Gerechtigkeit; er hat einfach  Mitgefühl mit dem Schuldner. Der Diener selber ist es, der dem Mitmenschen gegenüber auf Gerechtigkeit besteht und sich damit der Vergebung unwürdig erweist. Das Gleichnis betont damit – neben dem Gottesbild Jesu – das radikale ernst Nehmen der Verantwortung des Menschen, dem Gott nicht einmal die Vergebung aufdrängen will: Er soll diese Vergebung bewusst übernehmen und durch eigenes Handeln ratifizieren.

Jesus hat nicht von einem „gerechten Gott“, sondern von einem liebend mitfühlenden Gott gesprochen, der das „Heil“ der Menschen sucht, dabei allerdings auf ihre Eigenverantwortung besteht. Wie wenig seine Jünger ihn verstanden haben, zeigt sich darin, dass das Neue Testament bis heute vielfach (sogar in der „Verbesserung“ dieses Gleichnisses!) ein Gottesbild verewigt, das seit Jesu „Glücksbotschaft“ radikal überholt sein müsste! Sie sind dabei so weit gegangen, dass sie selbst Jesus, der „gekommen ist, um zu suchen und zu retten, was verloren ist“, als unbarmherzigen Richter und Rächer dargestellt haben (Lk 19,10 vgl. Mt 25,41-46).

Wenn wir mit Jesus beten, stehen wir jedenfalls nicht vor Gott als Richter, aber wir stehen vor unserer eigenen Verantwortung. Es ist unsere Aufgabe, den Weg der Versöhnung mit dem Vater zu betreten. Dieser Weg führt über die Erkenntnis der eigenen Schuld zur aktiven Annahme der Versöhnung mit Gott dadurch, dass auch wir allen vergeben, die uns gegenüber in irgendeiner Weise schuldig geworden sind.

Was hielt also Jesus von der gerechten Vergeltung von Sünden? - Es ist uns eine Episode überliefert, wo ihm berichtet wurde, wie Pilatus eine Gruppe von Galiläern, die er wahrscheinlich für Aufständische hielt, im Tempel töten ließ. Jesus sagte: „Meint ihr, dass nur diese Galiläer Sünder waren, weil das mit ihnen geschehen ist, alle anderen Galiläer (also ihr!) aber nicht? Nein, im Gegenteil: Ihr alle werdet genau so umkommen, wenn ihr euch nicht bekehrt (wenn ihr nicht umdenkt)!“ (Lk 13,1-3).

Es verbietet sich, diese Szene als Gerichtsdrohung gegen unbußfertige Sünder anzusehen, denn Jesus stellt hier gerade den Zusammenhang zwischen Tod und Sündigkeit der Opfer der Gewalttat in Frage. Er kann im Folgenden auch nicht gesagt haben, dass alle Sünder (von Gott!) umgebracht werden,  weil dies seinem Gottesbild widersprochen hätte. Wenn dieser Text auf ihn zurückgeht, muss er im Zusammenhang seiner Verkündigung gelesen werden. Was gewöhnlich als „Bekehrung“ (metanoia) gelesen wird, bezeichnete für Jesus nicht Abkehr von Sünden, sondern eine totale „Umkehr“, ein „Umdenken“. Meines Erachtens waren seine Worte ursprünglich – der Situation entsprechend – etwa: „Wenn ihr weiter so denkt wie bisher (also die Römer als erbitterte Feinde bekämpft statt sie als Kinder eures „Vaters“ zu lieben!), müsst ihr auch die Folgen tragen, denn sie werden euch genau so umbringen.“ Das gleiche hat er ja bei seiner Verhaftung auch gesagt: „Alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen“ (Mt 26,52).
               
Diese Deutung legt uns nahe, dass die Menschen – nach der Ansicht Jesu – zwar nicht von einer göttlichen Gerechtigkeit verfolgt werden, aber deshalb noch lange nicht hoffen können, von den Folgen ihrer Taten verschont zu werden. Sie werden zwar nicht von einer göttlichen Rache, dafür aber von dem sehr irdischen Gesetz von Ursache und Wirkung eingeholt, und keine göttliche Vergebung wird die Folgen ihrer Taten aufheben. Die Folgen einer „Schuld“ beschränken sich nicht auf die Opfer, sie betreffen gewöhnlich auch die Täter. Auch nach der Vergebung seiner Schuld bleibt es die Aufgabe des Menschen, sich mit den Folgen seiner Handlung auseinander zu setzen und sie nach Möglichkeit zum Besseren zu wenden.
geloggt Offline
E-Mail E-Mail PrivatnachrichtPrivatnachricht
1 Seiten 1 Thema empfehlen
Thema ausdrucken Thema ausdrucken

Forum www.religion-und-spiritualitaet.de    Religion und Spiritualität    Vaterunser  ›  „Vergib uns unsere Schuld!“

Thema Bewertung
Für dieses Thema existiert derzeit keine Wertung