Prosinger, Wolgang: Tanner geht. Sterbehilfe – Ein Mann plant seinen Tod
Kritik:
Wie es zu diesem Buch kam, schreibt der Autor Wolfgang Prosinger in den Nachbemerkungen. Angeregt hatte ihn 2005 ein Zeitungsartikel in der ZEIT, wo der Redakteur Bartholomäus Grill den Weg seines qualvoll leidenden Bruders beschreibt und wie der bei DIGNITAS (DIGNITAS. Menschenwürdig leben. Menschenwürdig sterben.) in Zürich die ersehnte Begleitung in den Freitod findet. „Könnte es mir gelingen, einen Menschen kennen zu lernen, der denselben Entschluss wie Bartholomäus Grills Bruder gefasst hat und bereit wäre, sich mir anzuvertrauen? Wäre es möglich, diesen Menschen wochen- und monatelang zu begleiten, mit ihm zu sprechen, immer und immer wieder, um ihn verstehen zu lernen, das Unbegreifliche zu begreifen: Warum tut einer das? Was geht in den letzten Wochen seines Lebens in ihm vor? Wie lebt man dem Tod entgegen?“ (S. 168). Prosinger hat einen solchen Menschen über die Internet-Seite von DIGNITAS gefunden. Tanner soll dieser Mann heißen (Deckname), der ein persönliches Interesse daran hat, dass diese Art, einem qualvollen Siechtum zu entgehen, in der Öffentlichkeit bekannter wird.
Und so besucht der Journalist Prosinger den von unglaublichen Schmerzen durch unheilbare Krankheiten: Krebs, Aids und Parkinson geplagten Tanner über Wochen und Monate und verbringt mit ihm ungezählte Stunden. Sein ganzes Leben breitet Tanner aus: seine Kindheit mit einem brutalen Vater und einer duldenden Mutter, die ihn nur zögerlich mit seiner zwanzig Jahre ältere Halbschwester bekannt macht; schließlich war die Mutter erst vierzehn, als sie diese Tochter bekam. Aber dann kamen für Tanner gute Jahre mit beruflichem Erfolg; Geldsorgen gab es nie. Er lernte Gerald (Deckname) kennen, seinen Lebensgefährten, mit dem er fünfzehn Jahre zusammen war und dessentwegen er Zürich verließ und nach Köln (auch Deckname) zog. In diese Zeit fällt die aufreibende Sorge um die demenzkranke Mutter in Zürich, die Tanner unter großem Zeitaufwand ganz oft besucht. Er glaubte, ihr gutmachen zu müssen, was der Vater ihr angetan hatte. Als die Mutter schließlich nach dreimonatigem Heimaufenthalt an den Folgen eines Suizidversuchs stirbt und kurze Zeit darauf auch der Vater an Altersschwäche, macht Tonner die große Erbschaft. Er und sein Freund Gerald kaufen sich einen Wohnwagen für rund 550 000 DM und begeben sich auf große Fahrt. Doch eigentlich kommen sie nur bis Italien – immer an dieselbe Stelle. Es fehlt ihnen an nichts, sie genießen das Leben. Doch nach fünfzehn Jahren hat die Partnerschaft Risse, ja Sprünge bekommen, und die beiden trennen sich. Tanner stürzt sich in die neue Freiheit – auch sexuell, aber am Ende bringt sie ihm Aids ein. Hinzu kommen Krebs und Parkinson, und schließlich entscheidet sich Tanner unter dem Druck der Schmerzen und Aussichtslosigkeit für den von DIGNITAS angebotenen begleiteten Freitod. Sehr einfühlsam und mit großem Respekt vor der Würde dieser persönlichen Entscheidung beschreibt Prosinger Tanners letzte Wochen und Monate; auch Gespräche mit dessen Freunden und mit Gerald gehören dazu. Tanners Verhältnis zu Gerald hatte sich längst entspannt. Man besucht sich gegenseitig, wie sich Freunde besuchen. Tanner, sein baldiges Ende vor Augen, sucht einen Erben. Für ihn ist klar: Gerald soll alles erben. Pro forma – wegen der Steuerersparnis – findet sogar noch eine Verpartnerung statt. – Insgesamt eine sehr bewegende Schilderung eines authentischen Schicksals.
Am Rande der Schilderung dieser ganz persönlichen Lebensgeschichte arbeitet Prosinger meisterhaft bestimmte Sachfragen ab, so z. B. die Debatte um die Sterbehilfe, indem er klare Unterscheidungen trifft zwischen aktiver, passiver und indirekter Sterbehilfe und der Beihilfe zur Selbsttötung und deren unterschiedlicher rechtlicher Relevanz in Deutschland und in der Schweiz (S. 31 ff.). An anderer Stelle gibt der Buchautor eine Übersicht über die in Deutschland geführte Diskussion über die Freitodhilfe. So sagt die Deutsche Ärztekammer in ihren Grundsätzen zur ärztlichen Sterbebegleitung: „Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung widerspricht dem ärztlichen Ethos und kann strafbar sein“ (S. 37). Auch die katholische Kirche in ihrem Repräsentanten Kardinal Lehmann hat sich vor Praktiken der Freitodhilfe verwahrt. Lehmann 2007 auf dem Mainzer Hospiz- und Palliativtag: „Wir haben nicht das Recht, unser Leben selbstmächtig zu beenden oder unser Menschsein durch völlige Ausschaltung unserer Sinne und unseres Denkens und Wollens zu betäuben oder geradezu auszuschalten“ (S. 38). Anders dagegen der katholische Theologe Hans Küng, der für die Selbstbestimmung des Einzelnen plädiert: „Wenn das ganze Leben von Gott in die Verantwortung eines Menschen gestellt ist, dann gilt diese Verantwortung auch für die letzte Phase unseres Lebens: wenn es ans Sterben geht. Warum sollte gerade diese letzte Phase des Lebens von der Verantwortung ausgenommen sein?“ (S. 39). Warum die Diskussion über dieses Thema immer dringlicher wird? Weil die ärztliche Kunst das Sterben immer wirksamer verhindern kann, ohne dass das Leben seine frühere Qualität zurück bekäme, und weil die demografische Entwicklung uns nicht erlauben wird, die Pflegezeiten und –kosten beliebig auszudehnen.
Ein eigenes Kapitel befasst sich mit dem Tabu der Selbsttötung und dem Skandal des öffentlichen Schweigens. Verschwiegen wird nämlich in der Gesellschaft, dass sich in Deutschland im Jahr etwa 11 000 Personen auf welche Weise auch immer selbst töten. Das sind bei weitem mehr, als Menschen im Straßenverkehr ums Leben kommen. Dabei gehört sicherlich mancher Verkehrstote statistisch in die Rubrik „Selbsttötung“, ohne dass wir das mit Sicherheit feststellen können. Aber darüber wird nur selten öffentlich berichtet in der Sorge, es könnten Nachahmer angesprochen werden.
Als ausgesprochen fair muss gewertet werden, dass dem Modell der Suizidhilfe das Gegenmodell Hospizbewegung und Palliativmedizin gegenübergestellt wird. Es ist zweifellos eine humane Form der Sterbebegleitung, aber (noch) völlig unzureichend für ein flächendeckendes Angebot. – Durchaus kritisch wird allerdings auch DIGNITAS selbst beleuchtet. Der etwas zwielichtige Ludwig Minelli, Gründer und Leiter der Organisation DIGNITAS, nimmt zwar persönlich Stellung zu den immer wieder erhobenen Vorwürfen gegen ihn und seine Organisation, doch die Antworten sind nur wenig überzeugend, was wohl damit zusammen hängt, dass Minelli kein Sympathieträger seines Unternehmens ist. Vor allem wird immer wieder kritisiert, dass sein Unternehmen die Finanzen nicht offen legt. So kommt Prosinger zu folgender Einschätzung des Unternehmens DIGNITAS: „Es kann im Urteil über DIGNITAS eine einheitliche Betrachtung nicht geben. Es bleibt ein unauflösbarer Widerspruch, eine Aporie. Es ist das Recht der Gesunden, empört zu sein und DIGNITAS würdevolles Handeln abzusprechen. Aber wer das tut, muss sich im Klaren sein, dass er von seiner Vorstellung von Würde spricht, von seiner eigenen. Und dass er mit dieser Vorstellung die Würde eines anderen antasten kann“ (S. 152).
Hilfreich ist die Literaturangabe im Anhang zur Vertiefung und Weiterführung der Problematik.
Das Buch ist spannend geschrieben, insgesamt sehr informativ und kompakt, es ist kein einseitiges Plädoyer für DIGNITAS, sondern klärt auf und lädt zum Nach- und Weiterdenken ein. Jeder, der sich beruflich oder privat mit der Frage der begleiteten Suizid-Hilfe beschäftigen muss oder will, sollte dieses Buch lesen.
Buchdaten: Autor(en): Prosinger, Wolfgang Titel: Tanner geht. Sterbehilfe – Ein Mann plant seinen Tod Verlag: Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main ISBN Nummer: 978–3–10–059030-5
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