Weß, Paul, Glaube aus Erfahrung und Deutung. Christliche Praxis statt Fundamentalismus
Kritik:
Wer die Glaubenslehre seiner christlichen Religion ernst nimmt und bereit ist, die Risiken des freien Denkens auf sich zu nehmen, wird schwerlich der Frage ausweichen: „Woher wissen wir das alles?“ Wenn er diese Frage an Theologen richtet, wird die Antwort – kurz gefasst – etwa so lauten: „Unser christlicher Glaube beruht auf göttlicher Offenbarung, denn in Jesus Christus hat Gott selbst zu uns gesprochen.“ Dass eine derartige Begründung des „Glaubens“ das Schulbeispiel eines Zirkelschlusses (circulus vitiosus) sein könnte, das nach den Gesetzen der Logik ungültig ist, wird im Geräusch des theologischen Betriebes nur zu leicht übersehen. Eine Begründung des Glaubens damit, dass man sich auf die Gewissheit des Glaubens beruft, findet sich freilich nicht nur in der Argumentation fundamentalistischer Sekten. Es bleibt ein absolut unausweichliches Problem aller Religionen, die sich auf göttliche Offenbarungen berufen, denn dass wir irgendwo „Gottes Wort“ begegnen, können wir nur aus dieser Offenbarung selber erfahren, es ist also eine Behauptung, die für die „Gläubigen“ sich selbst beweist. Eine derartige Begründung des christlichen Glaubens genügt allerdings nicht mehr für moderne Menschen, die durch die Schule der Aufklärung gegangen sind. Gerade solche Menschen hatte Paul Weß (emeritierter Dozent für Pastoraltheologie auf der Universität Innsbruck) im Auge, als er sein Buch schrieb; denn im Hintergrund seiner Gedanken stehen seine Erfahrungen, die er in einer europäischen Großstadt, in Wien, während langer Jahre in der Seelsorge sammeln konnte.
Sein Buch (eine Sammlung von Beiträgen aus den letzten Jahren) ist entstanden aus der Suche nach einem nicht-fundamentalistischen Zugang zum christlichen Glauben, sowie aus dem Bemühen, daraus die nötigen Folgerungen für eine Reform der Kirche und ihre Verkündigung an religionskritische Menschen zu ziehen. Dies hatte sich eigentlich auch das 2. Vatikanische Konzil zum Ziel gesetzt, konnte es aber nur ansatzweise sehen und nicht annähernd verwirklichen. Dies ist das Thema des ersten Beitrages, in dem der Autor sich mit diesem Konzil auseinander setzt: Er zeigt, dass der Ausgangspunkt des Konzils – die Begründung des Glaubens aus einer Selbstoffenbarung Gottes durch Jesus als menschgewordenen Gott – selbst fundamentalistisch ist und deshalb dem Atheismus nichts entgegensetzen kann. Paul Weß sieht auch im Atheismus einen positiven Aspekt als Korrektiv der Theologie: der Atheismus ist eine Aufforderung, das Anliegen der „negativen Theologie“ ernster zu nehmen und nicht so zu tun, als wüsste man über Gott genau Bescheid. Er will die ganze Diskussion sozusagen vom Kopf auf die Füße stellen, indem er vorschlägt, bei der Begründung des Glaubens nicht von einer Theorie über Gott, sondern von menschlichen Erfahrungen, und zwar von Erfahrungen aus der Praxis christlicher Gemeinschaften auszugehen. Dieser Ansatz erfordert natürlich auch eine ernsthafte Reform der Kirche, damit sie (anders als die übrige „Welt“) in ihren konkreten Strukturen wirklich geeignet wird, ein „Erfahrungsraum der Liebe Gottes in der Welt“ zu sein. Damit ist das Thema des ganzen Buches umrissen, das in den nächsten Beiträgen noch weiter ausgeführt wird.
Wie tief seine Reformvorschläge reichen werden, zeigt gleich der nächste Beitrag, seine Auseinandersetzung mit dem Buch „Jesus von Nazareth“ des Papstes Benedikt XVI. Es geht dabei um die Kernaussage , dass Jesus „wirklich als Mensch Gott war“, die Benedikt aus dem Neuen Testament nachzuweisen versucht. Paul Weß bemängelt dabei, dass der Papst nur solche Bibelstellen anführt, die (scheinbar) seine Auffassung stützen, aber die vielen anderen Stellen einfach übersieht, die ihr entgegenstehen. Dann untersucht er vor allem die zwei „entscheidenden Beweise“ der Gottheit Jesu (im Prolog des Johannesevangeliums und im Philipperbrief) und zeigt, dass diese Texte ursprünglich nicht von der Gottheit Jesu sprechen, sondern anders zu verstehen sind, und erst nachträglich im Sinn der späteren hellenistischen Christologie interpretiert wurden. Zwischen der ursprünglichen Botschaft der Jünger Jesu und den „ökumenischen Konzilien“ des Oströmischen Reiches liegen nämlich nicht nur Jahrhunderte, sondern eine Übersetzung aus der hebräisch-aramäischen Gedankenwelt in die ganz anders geartete Begriffswelt der hellenistischen Philosophie. Eine solche „Inkulturation“ musste – bei allem Bemühen um eine treue Weitergabe der Botschaft – zwangsläufig auch Elemente der neuen Kultur übernehmen, die ihr fremd waren, aber seither mit der früheren Tradition zu eine Einheit verschmolzen sind und sie in einzelnen Zügen auch verfälschen konnten. Deshalb ist eine Kritik und bei Bedarf auch eine Revision dieser Tradition berechtigt und sogar unerlässlich.
Erst in der letzten Zeit wird vielen bewusst, dass das Christentum bis heute ein Teil der europäischen (der sog. „westlichen“) Kultur geblieben und z. B. der chinesischen oder der islamischen Kultur gänzlich fremd ist, und sogar für die gerade entstehende nach-aufklärerische moderne Kultur bis jetzt als Fremdkörper erscheint. Wenn Jesus für die gesamte Menschheit überhaupt etwas Wichtiges zu sagen hat, kann deshalb die Anpassung der christlichen Lehre an die griechische Philosophie (ihre letzte Inkulturation) wohl nicht ihre letzte gewesen sein.
Aber ist eine neue Inkulturation, also das Zurücklassen des mit dem Christentum bisher (auch von Benedikt XVI) schlechthin gleichgesetzten griechischen Denkens zu unserer Zeit überhaupt vorstellbar? – Auf jeden Fall beschreibt Paul Weß ein historisches Beispiel, wo etwas derart Unvorstellbares Wirklichkeit geworden ist. Auch für die Apostel war ja ihr Glaube an Jesus untrennbar mit ihrer angestammten jüdischen Religion verbunden, bis sie plötzlich vor Menschen standen, denen die jüdische religiöse Tradition gänzlich fremd war, die aber doch Interesse für die Botschaft Jesu zeigten. Mussten diese Menschen alle erst Juden werden, um Christen werden zu können? Paulus, der die meisten von ihnen bekehrt hat, glaubte es nicht. Er kam mit Vertretern dieser „Heiden“ zu den „Aposteln“ nach Jerusalem, und nach heftigen Diskussionen kamen sie einmütig zu der Einsicht („es gefiel dem heiligen Geist und uns“), dass nicht alle Christen auf die jüdische Tradition verpflichtet werden mussten. Eine Parallele zu dieser Lösung wäre in unserer Zeit etwa die Entscheidung, dass nicht alle Mitglieder der Kirche auf die Dogmen der ersten Konzilien ihrer „griechischen Epoche“ verpflichtet werden müssen – und Paul Weß wagt tatsächlich einen Ausblick auf diese Möglichkeit. Er kann sich dabei sogar auf Karl Rahner, auf einen der größten Theologen des 20. Jahrhunderts berufen, der seiner Kirche eine so unvorstellbare Veränderung durchaus zugetraut hat. Rahner beschrieb „theologisch“ drei große Epochen der Kirchengeschichte, „von denen die dritte eben erst begonnen…..hat. 1. die kurze Periode des Juden-Christentums, 2. die Periode der Kirche in einem bestimmten Kulturkreis, nämlich des Hellenismus und der europäischen Kultur und Zivilisation, 3. die Periode, in der der Lebensraum der Kirche von vornherein die ganze Welt ist.“ Und diese dritte Periode könnte und müsste mit einem ebenso einschneidenden Schritt beginnen, wie der Übergang vom Juden-Christentum in den Hellenismus, sonst bleibt die Kirche „westlich“. Es ist keineswegs überzeugend, wenn wir (mit Benedikt XVI.) die griechische Philosophie zum Wesen des Christentums erklären, denn damit müssten wir zugleich das Juden-Christentum (mit Jesus und seinen Jüngern!) für nicht-christlich erklären.
Auf die am Anfang des Buches stehende Frage nach einer nicht-fundamentalistischen Begründung des Glaubens antworten die Ausführungen des Autors über nötige Reformen der katholischen Kirche, die sich zum Ziel setzen, die christlichen Gemeinden zum Erfahrungsraum der Liebe Gottes zu machen. Der Weg zu einer solchen Kirche führt durch ein erneuertes Amtsverständnis und eine auf Einmütigkeit zielende neue Entscheidungsstruktur. Mit den wirklich geschwisterlich lebenden Gemeinden entstünde dann wie selbstverständlich eine Begründung des Glaubens aus Erfahrung, die auch für aufgeklärt denkende Menschen überzeugend erscheinen kann.
Vor der Frage der wünschenswerten Reformen sieht Paul Weß den Papst in einem beinahe unauflösbaren Dilemma. Er zitiert ausführlich aus einem Kommentar des Theologen Joseph Ratzinger zum 2. Vatikanischen Konzil , in dem dieser erklärte, dass man nicht alles als legitime Tradition, als Entfaltung der christlichen Botschaft betrachten kann, was sich in der Kirche tatsächlich gebildet hat, denn neben der getreuen Überlieferung gibt es auch die „entstellende Tradition“. Dazu stellte Ratzinger dann mit Bedauern fest, dass dieses Konzil „das traditionskritische Moment so gut wie völlig übergangen“ hat. Grund dafür war die Überzeugung der Teilnehmer, dass die beabsichtigte Erneuerung der Kirche die Gültigkeit ihrer überlieferten Lehre nicht berühren darf. Mit dieser Einstellung konnte es ihnen überhaupt nicht bewusst werden, dass ihr Konzil die bisherige dogmatische Tradition in der Tat (sogar in mehreren Punkten) „verbessert“, d. h. verändert hat, indem es etwa erklärt, dass „Menschen guten Willens“ auch außerhalb der katholischen Kirche „der Auferstehung entgegengehen“, oder indem es die Rolle der nicht-katholischen Kirchen aufgewertet, sich auch über nicht-christliche Religionen positiv geäußert, und sogar die Religionsfreiheit ausdrücklich anerkannt hat. Eine gründliche Untersuchung der früheren Konzilien hätte die Anerkennung dieser Tatsache nahe gelegt, denn sie hätte gezeigt, dass auch diese wiederholt dogmatische Erklärungen ihrer Vorgänger geändert haben, angefangen mit dem Konzil von Chalkedon (451), das das christologische Dogma des ersten Konzils von Nikaia (325) verbessert hat. Auf solche Tatsachen hinzuweisen war aber unter kirchlichen Theologen bisher nicht üblich. Die Anhänger von Lefebvre haben recht, wenn sie sagen, dass das 2. Vatikanische Konzil von der bisherigen Tradition abgewichen ist. Die Folgerung aus dieser Tatsache müssten allerdings nicht eine Abkehr vom Konzil, sondern die Überprüfung und Weiterentwicklung des Begriffes der „heiligen Tradition“ sein. Die Leitung der katholischen Kirche hat bisher (öffentlich) leider nicht den Mut, dieser Tatsache in die Augen zu schauen. Das große Dilemma des Papstes besteht darin, dass er meint, an der Gültigkeit des Konzils und gleichzeitig auch an der Kontinuität der kirchlichen Lehre festhalten zu müssen. Aus diesem Dilemma gibt es aber nur einen Ausweg: die Geschichtlichkeit der Dogmen anzuerkennen, wie auch das „Apostelkonzil“ in Jerusalem anerkennen konnte, dass die bis dahin „gültige“ jüdische Tradition in einer neuen geschichtlichen Epoche nunmehr der Vergangenheit angehörte.
Die Bejahung der Geschichtlichkeit der Glaubenslehre hat freilich einen sehr hohen Preis; sie gefährdet auf den ersten Blick die Identität der Kirche, weil dabei ihr bisher am meisten gehüteter Schatz, ihr Privileg, der „einzig wahre Glaube“ irgendwie unauffindbar wird. In dieser Situation könnte nur helfen, die Identität der Kirche ganz radikal in der ursprünglichsten Botschaft Jesu zu verankern: Was Jesus mit „Glauben“ bezeichnete, war nämlich keineswegs ein System theologischer Aussagen, sondern (mit heutigen Begriffen formuliert) das bewusst gewordene Urvertrauen in den „Vater“ unseres Lebens, über den die Glaubenden nicht unfehlbar bescheid wissen, sondern dem sie durch uneingeschränkte Liebe ähnlich und dadurch seine Söhne und seine Töchter werden können und sollen.
Buchdaten:
Autor(en): Weß, Paul Titel: Glaube aus Erfahrung und Deutung. Christliche Praxis statt Fundamentalismus. Verlag: Otto Müller Verlag, Salburg-Wien, 2010 ISBN 978-3-7013-1177-4
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