Einleitung:
Zur Veranschaulichung der Leidensgeschichte Jesu wie zur inneren Einkehr des Betrachters hat die Volksfrömmigkeit vierzehn Kreuzwegstationen hervorgebracht, die man als mehr oder weniger künstlerische Skulpturen in katholischen Kirchen findet oder auch in der freien Natur. Nicht alle Bilder, vor denen der Betrachter „Station“ macht, haben Szenen aus Jesu Leidensgeschichte zum Inhalt; manche Bilder wurden hinzu erfunden und sollen das Geschehen beim Betrachter vertiefen. Eine gute Weise, den Kreuzweg Jesu zu verstehen, ist die Identifizierung des Betrachters mit den dort handelnden Personen. Denn der Kreuzweg kann auf mich, den Betrachter, wie ein Spiegel wirken: mal bin ich Opfer, mal bin ich Täter oder Zuschauer am Rande.
Es waren im 17. und 18. Jahrhundert wohl die beiden Franziskanermönche Antonius Daza und Leonard von Porto Maurizio, die dem Kreuzweg diese Form gegeben und für die Verbreitung in der ganzen Kirche gesorgt haben.
1. Station: Jesus wird zum Tode verurteilt
Das erste Bild zeigt den Herrn gebunden vor Pilatus stehen, der Jesus zum Tode verurteilt. Die verhetzte Menschenmenge hatte dieses Urteil gefordert. Eine Momentaufnahme, die auch uns einfängt.
Ich: Pilatus
Oft bin ich selber Pilatus: Richter über Mitmenschen, abhängig von der öffentlichen Meinung und Stimmung, mit unschuldigen Händen, wie ich mir selber einrede und wie ich es öffentlich mache. Ich tue, was andere von mir erwarten, nicht was das Gewissen für richtig hält. Ich bin dem Unrecht zu Diensten und gehe dem Recht aus dem Weg. Gradlinig zu sein ist schwer. Das Recht wird gebeugt – jeden Augenblick, millionenfach täglich. Wer es tut, befindet sich in guter Gesellschaft. Richter tun es, Rechtsanwälte, Minister, Politiker, Vorgesetzte, Lohnabhängige, Männer und Frauen. Nicht immer steht ein Menschenleben auf dem Spiel, wohl aber das Wohl irgendeines. Es gibt keinen, der unschuldig ist.
Ich: Jesus
Manchmal fühle ich mich auch als Opfer, gewissermaßen in der Rolle Jesu. Ich vertraue auf das Recht, mehr noch auf Recht schaffende Menschen. Doch die sich so geben, sind es oft nicht. Es ist zum Verzweifeln: jeder ein Opportunist, tut, was ihm nützt, denkt nicht daran, was rechtens wäre. Und ich: die Hände gebunden, stumm, weil Reden nichts nützt, ohnmächtig vor der Macht des Unrechts. So geht es vielen Menschen: vor den Gerichten, in der Ehe, am Arbeitsplatz. Gerechtigkeit gibt es nicht, es sei denn als die große Sehnsucht der Menschheit.
Ich: Mitläufer
Doch allzu oft bin ich Mitläufer, einer von der Art, die da schreien: Kreuzige ihn, kreuzige ihn! Im Chor schreit sich´s leicht. Gedankenlos wird mitgebrüllt. Die Verantwortung für die Todesrufe trägt die Masse, die den Einzelnen von der Verantwortung dispensiert. Die Masse, sie hat immer die Stimmung gemacht und war am Ende nie dafür verantwortlich. So bei Jesus, so im Dritten Reich, oder in der ehemaligen DDR. Es ist so schwer, ICH zu sein: verantwortlich fürs eigene Tun, gradlinig im Denken, Persönlichkeit zu sein gegen die Masse.
Der Kreuzweg ist ein Spiegel der Gesellschaft, wie sie war und wie sie ist. Er ist ein Spiegel meiner selbst.
2. Station: Jesus nimmt sein Kreuz auf sich
Das zweite Bild des Kreuzwegs zeigt, wie Jesus das Kreuz auf seiner Schulter trägt. Das wird biblisch mit der kurzen Bemerkung „und er trug selbst sein Kreuz“ (Jo 19, 17a) bestätigt.
Man stelle sich vor:
Jesus nimmt sein Kreuz auf sich. Es resultiert aus dem Todesurteil. Jesus akzeptiert sein gewaltsames Ende am Kreuz, das größte Unrecht, das man sich vorstellen kann: Tötung im Namen des Gesetzes. Unschuldig. Und Jesus rebelliert dagegen nicht, er verteidigt sich nicht, mobilisiert keine Öffentlichkeit, versucht nicht einmal zu fliehen, zeigt keine innere Wut gegen das ungerechte Urteil, nicht einmal Selbstmitleid können wir feststellen. –
Ist das richtig?
Ich habe mit der Einstellung Jesu meine Schwierigkeiten. Es stellen sich mir viele Fragen: Darf man Unrecht einfach so unwidersprochen geschehen lassen? Wäre Jesus nicht verpflichtet gewesen, sich selbst zu retten und zu schützen (wenn er gekonnt hätte)? Liegen wir da falsch, wenn wir Menschenrechtsorganisationen bilden, die gegen Unrecht, Folter und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ihre Stimme erheben? Stehe ich selber nicht in der Pflicht, Unrecht aufzudecken, zu verhindern oder zumindest die Öffentlichkeit aufzuwecken und hellhörig zu machen? – Ich denke aber auch noch an andere Kreuze der Menschen: Krankheit, die zum Tode führt. Soll die keiner heilen? Hunger, der die Menschen plagt. Besteht keine Pflicht zu helfen? Unterdrückung und Unfreiheit in so manchen Teilen der Welt. Kann uns das gleichgültig sein? Steht das alles nicht im Widerspruch zu Jesu Wirken in den Tagen seines öffentlichen Lebens? Hat er nicht selber Kranke gesund gemacht, Aussätzige rein und Blinde, Stumme und Taube geheilt? Haben wir nicht alle einen Auftrag, die Welt zum Guten zu verändern, eben Nächstenliebe im weitesten Sinne des Wortes zu üben? – Oder ist es etwas anderes, für sein eigenes Recht zu kämpfen oder für das Recht eines Anderen?
Was ich verstehen kann.
Ich kann verstehen, dass ich Unrecht geschehen lassen muss, wenn ich keine Möglichkeit habe, dagegen vor zu gehen. Ich kann verstehen, dass ich im Kampf um das Recht und die Freiheit unterlegen sein kann, auch wenn ich dafür gekämpft und gerungen habe. Ich kann verstehen, dass ich Krankheit akzeptieren muss, wenn alle Mittel der Heilung nichts gebracht haben. Ich muss letztlich auch den Tod akzeptieren, wenn er unausweichlich ist.
Ein Rest Unverständnis bleibt.
Immer wenn ich diese Kreuzwegstation betrachte, kommen alle diese Fragen in mir hoch. Sie beschäftigen mich meist noch lange danach. Aber zu einem befriedigenden Ergebnis bin ich noch nicht gekommen und werde es auch wohl nie finden. Und so bleibt ein Rest Unverständnis, warum das, was Jesus tut, wohl richtig ist. Diese Option möchte ich nicht aufgeben, doch möchte ich Jesu Handeln zu gerne auch verstehen.
3., 7. und 9. Station: Jesus fällt unter der Last des Kreuzes
Die 3., 7. und 9. Station lauten gleich: Jesus fällt unter der Last des Kreuzes. Im biblischen Ablauf der Leidensgeschichte Jesu gibt es diese Szene nicht. Der fromme Betrachter hat hier wohl eigene Lebensgefühle und Lebenserfahrungen hineinprojiziert. Die Dreimaligkeit macht deutlich, wie wichtig und tief sitzend diese Gefühle sind. – Dazu einige Gedanken:
Erfahrungen des Zusammenbruchs
Es gibt Lebenssituationen, da sagen wir: ich kann nicht mehr. Der innere wie der äußere Zusammenbruch stehen unmittelbar bevor. Die Kräfte sind erschöpft. Das Maß ist voll.
„Ich kann nicht mehr“ sagt der Sterbende, dessen Leben erlischt. Alles Wollen, alles Müssen verlieren einmal ihre lebensgestaltende und lebenserhaltende Kraft. Der Zusammenbruch kommt unaufhaltsam, er wird verfügt. Und keiner kann sich ihm entziehen. Das ist oft genug die letzte Botschaft der Sterbenden an die Lebenden.
„Ich kann nicht mehr“ sagt die Frau, deren Mann gestorben ist und deren Kinder längst in die Selbständigkeit ausgerückt sind. Das leere Haus, der Tag ohne Pflichten, die Gleichgültigkeit der Umgebung, die Abwesenheit der Kinder, das alles mag sich wie eine große Sperre auftun, die einer sinnvollen Zukunft den Weg versperrt.
„Ich kann nicht mehr“ sagt der Schüler, dem Erfolg und Anerkennung in der Schule versagt bleiben. Er hat auch sonst niemanden, der ihm etwas Liebes sagt oder seinen Kummer anhört. Denn die Eltern sind pausenlos mit sich selbst beschäftigt. Und Freunde hat nur der Tüchtige, nicht aber der, der nach den Maßstäben der Leistungsgesellschaft versagt. Und so bieten sich eilfertig Tröster an, die keine sind: die Zigarette, der Alkohol, das Rauschgift. Der Zusammenbruch ist programmiert. Und wer sagt, der Versager sei alles selbst schuld, macht es sich zu einfach.
Erfahrungen des Zusammenbruchs gibt es so viele, wie es Menschen auf dieser Welt gibt. Und so hat der Betrachter auch Jesus auf seinem Kreuzweg zusammenbrechen lassen – gleich drei Mal. Denn wer wirklich Mensch ist (wie Jesus), der kennt auch die Erfahrung, wie begrenzt die eigenen Kräfte sind.
Die Kraft zum Aufstehen
Doch Jesus bleibt nicht liegen. Er steht auf und geht weiter. Dabei lässt er das schwere Kreuz nicht zurück, er verweigert sich ihm nicht, sondern er schleppt es voran. Keiner weiß, woher er die Kraft nimmt – physisch wie psychisch – zu diesem Neuaufbruch. Aber auch dann reichen die Kräfte nur für die nächsten Schritte – bis zum erneuten Fall.
Wie viele Kreuzwegbeter mögen in diesen Stationen sich selber wieder gefunden haben? Den Betrachter mag erleichtern, dass Fallen keine Schande ist. Er mag auch Ermutigung finden, wieder aufzustehen und ein paar Schritte weiter zu gehen auf dem insgesamt aussichtslosen Weg. Woher die Kraft kommt? Wer könnte das mit letzter Sicherheit sagen! Der gläubige Mensch vertraut darauf, dass alle Kraft von Gott ausgeht. Und ich bin sicher, dass auch der Zweifler und der, der sich ohne Glauben wähnt, in diesen Bildern Trost findet.
Jesus fällt unter dem Kreuz. – Wer da fällt, bin ich selber; wer da aufsteht, bin ich selber. Und jedes Aufstehen hat nur deshalb einen Sinn, weil es ein Vorausbild jener Auferstehung ist, die wir Ostern feiern.
4. Station: Jesus begegnet seiner Mutter
Die hier erwähnte Begegnung des Kreuz tragenden Jesus mit seiner Mutter hat keinen ausdrücklichen biblischen Hintergrund. Fromme Fantasie hat diese Begegnung erfunden. Allein die Vorstellung, dass eine solche Begegnung stattgefunden haben könnte, regt zum Nachdenken an. Wie immer kann man das aus unterschiedlicher Perspektive der Beteiligten tun.
1. Gefühle der Mutter
Eine Mutter hält immer zu ihrem Sohn, egal was er denkt, tut oder was mit ihm gemacht wird. Das ist das gängige Klischee, und vielleicht stimmt es ja auch in diesem Fall. Das Besondere an dieser Situation ist, dass Maria sich bewusst ist, dass sich alles zuspitzt und auf ein gewaltsames Ende hinausläuft. Sie wird ihren Sohn bis zuletzt, also bis zur Todesstunde am Kreuz begleiten, wohl wissend, dass das Ende unumkehrbar bevorsteht. Ob sie nicht auch wohl Zweifel gehabt hat, dass es richtig war, dass ihr Sohn sich so mit den Autoritäten seiner Zeit anlegte; auch Zweifel an seiner Sendung und der persönlichen Überzeugung, dass alles so kommen müsse; Zweifel an ihrer Erziehung in jungen Jahren; vielleicht sogar Schuldgefühle, dass auch sie Anteil haben könnte an dieser bösen Entwicklung? Hätte sie nicht Einfluss nehmen können oder müssen, damit das Schlimmste verhindert worden wäre? War ihr der Sohn nicht förmlich entglitten? Welch ein Gefühlskarussell mag sich in einer Mutter in einem solchen Augenblick in Gang setzen? Wir können darüber nur spekulieren. Die Kreuzwegstation spricht von einer Begegnung. Sie bleibt wortlos, bleibt stumme Kommunikation.
2. Jesu Gedanken
Was mag Jesus gedacht haben, als er seine Mutter am Wegrand sah? Es wird ihm gut getan haben, dass wenigstens sie nicht laufen gegangen ist wie die meisten seiner Freunde, auf die er so große Stücke gehalten hat. Ob er an die Zweifel seiner Mutter gedacht hat, an ihre Unsicherheiten, ob sie selber etwas falsch gemacht hat? Hat er in diesem Augenblick etwa an das Wort gedacht, das er vor kurzem noch über seine Mutter und seine Verwandten gesagt hat: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Und er streckte die Hand über seine Jünger aus und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder, Schwester und Mutter.“ (Mt 12, 48b-50)? Und ob Jesus nie Selbstzweifel gehabt hat, ob er selber denn alles richtig gemacht hat, wo doch alle Welt plötzlich gegen ihn ist? Wie gesagt: auch Jesus spricht kein Wort bei dieser Begegnung, so dass sich die Kommunikation mit seiner Mutter allenfalls auf den Blick oder die Sprache des Herzens beschränkt.
So ist das immer im Leben: Begegnungen, selbst wenn sie wortlos bleiben, können stark machen. Doch erst wenn sie ihre Sprachlosigkeit überwinden, können sie richtig etwas bewirken, können sie die Sache zum Guten wenden: Missverständnisse können geklärt werden, Versöhnung kann stattfinden, Mitleid kann ausgesprochen werden, Trost kann gespendet werden. In der Begegnung kann Heilung liegen.
5. Station: Simon von Cyrene hilft Jesus das Kreuz tragen
Die fünfte Station zeigt einen Mann, der Jesus das Kreuz trägt. Die Bibel kennt auch seinen Namen: Simon von Cyrene, der Vater des Alexander und Rufus. Dieser Simon steht für so viele andere Menschen, die ähnliches erlebt haben oder erleben.
Die Bibel über Simon von Cyrene
Was sagt die Bibel über Simon von Cyrene? Sie erwähnt ihn ganz schlicht als einen Vorbeikommenden. Kein Schaulustiger, kein Herbeigeeilter, schon gar kein Sanitäter oder professioneller Helfer – ein zufällig Vorbeikommender.
Und weiter sagt das Evangelium von ihm, dass er gezwungen wurde, Jesu Kreuz zu tragen. Offenbar blieb dem zufällig Vorbeikommenden keine andere Wahl, als das zu tun, was andere von ihm verlangten. Wir lesen von keinem Widerspruch, von keinem Fluchtversuch, nicht einmal eine ausdrückliche Zustimmung wird berichtet. Nur vom Zwang ist die Rede, und das genügt, um den Leser zu überzeugen, dass Simon tatsächlich das Kreuz getragen hat.
Und noch etwas fällt mir am biblischen Bericht auf: die Tat des Simon bleibt ohne Resonanz. Der Name des Kreuzträgers taucht nie wieder auf, seine Tat findet keine Bewertung. Lediglich der Zwang, der ihm widerfahren ist, bleibt erinnernswert.
Menschen, die ähnliches erleben
Ich sagte am Anfang, dass viele Menschen ähnliches erleben, was Simon widerfahren ist. Ich will das erklären. Es ist – wie bei Simon – meistens der Zufall, der uns in die Nähe des Leidensweges eines Menschen bringt. Selten gehen wir von uns aus auf den Leidgeprüften zu. Da beginnt zum Beispiel plötzlich und ganz unvermutet in unserer unmittelbaren Umgebung die Leidensgeschichte eines Kranken, für den es keine Heilung gibt. Angehörige sind plötzlich Mitbetroffene. Sie haben sich diese Begleiterrolle nicht ausgesucht. Der Zufall konfrontiert, das Zusammentreffen mit dem Leidenden war nicht geplant.
Und auch darin sehe ich eine Parallele: Wie Simon von Cyrene gezwungen wird, das Kreuz Jesu zu tragen und ihn zu begleiten, so sehen sich immer wieder Leute gezwungen, das Leid anderer mit zu tragen. Nicht als hätten die sich das ausgesucht, nein es bleibt ihnen keine andere Wahl. Und so tun sie, dem Zwang der Not gehorchend, was Simon einst tat. Gewiss, die Kreuze sind nicht aus Holz, sie haben andere Namen, aber sie sind nicht leichter als das Holz Jesu. Ich denke an die Sorge und Pflege der Angehörigen, die einen Sterbenden begleiten, die bei ihm bleiben bis zum Ende und seine Hilflosigkeit teilen. Ich denke an die Eltern eines behinderten Kindes, die nur noch für dieses Kind leben und sorgen und die an dem Gedanken schier zerbrechen, dass dieses Kind sie überleben wird. Ich denke an die Ehepartnerin eines psychisch Kranken, der überdreht und überspannt mit allen möglichen widersinnigen Aktionen die Familie in Atem hält. Ich denke auch an Kinder an der Seite ihrer Eltern, die in Scheidung stehen. Auch diese Kinder haben sich ihre Rolle nicht ausgesucht, und dennoch helfen sie auf ihre Art den Eltern. – Die Kreuzwegstation „Simon von Cyrene hilft Jesus das Kreuz tragen“ ist ein Urbild so vieler Lebensgeschichten, die am Rande der großen Kreuzwege spielen.
Die unbegründbare Sympathie
Simon von Cyrene ist mir sympathisch. Ich weiß nicht warum. Ich bin nicht er, und er ist sicher ganz anders als ich. Trotzdem empfinde ich seine Tat als gelungen. Ich bewundere ihn. ….wegen seiner Nähe zum Herrn? …wegen seines Gehorsams, der vielleicht die einzig mögliche Antwort auf den Zwang der Folterknechte war? ….oder wegen seiner Bescheidenheit, die auf große Worte verzichtete? Ich weiß es nicht. Er hat einfach meine Hochachtung. Und wie ihn bewundere ich alle Helfer an den Leidenswegen der Menschen. Vielleicht sind sie – gleichgültig welcher Religion oder Konfession sie angehören – die eigentlichen Nachfolger Jesu.
6. Station: Veronika reicht Jesus das Schweißtuch
Auch diese Kreuzwegstation hat keinen biblischen Ursprung. Vielleicht wollte die Betrachterin oder der Betrachter des Leidenswegs Jesu in der Gestalt der Veronika selber in die Begleitung Jesu einsteigen.
Was das Bild ausdrückt
Veronika ist eine sonst unbekannte Frau, die Jesus auf dem Kreuzweg begegnet. Diese Begegnung ist gewollt, nicht zufällig; denn die Frau will dem Leidenden einen Dienst erweisen. Sie reicht Jesus ein Tuch, mit dem er sich den Schweiß abputzen soll.
Für damalige Verhältnisse ungewöhnlich ist, dass diese Frau öffentlich auftritt und auf einen Mann zugeht, um ihm Sympathie zu zeigen. Sympathie heißt wörtlich übersetzt: Mitleid. Veronika schert sich nicht um die Rolle, die die jüdische Gesellschaft der Frau vorschreibt. Sie tut, was sie selber in diesem Augenblick für richtig und angebracht hält.
Was mich beeindruckt: Veronika zeigt da Mut, wo alle Männer sich feige zurückziehen. Ich denke an das überaus starke Wort des Petrus: „Auch wenn alle an dir Anstoß nehmen – ich nicht!“ Nicht der Mann Petrus, sondern Veronika hat als Frau dieses Wort eingelöst. Überhaupt redet Veronika nichts. Sie tut, was sie kann. Wortlos reicht sie dem Herrn das Schweißtuch. Das Zeichen spricht für sich. Starke Worte unterliegen häufig der Inflation, nicht die Tat. Veronika setzt sich für einen Menschen ein. Sie setzt sich damit sicher auch der Kritik, der Ächtung und dem Spott derer aus, die Gleiches dem Herrn zuvor zugefügt haben. Veronika ist eine große Frau.
Veronika heute
Gibt es Veronika heute noch? Ich glaube schon. Das Mitleid, der Mut zur Treue, das Verweilen, wenn die angeblich Starken Reißaus nehmen, das gibt es auch heute – gelegentlich. Ich will nicht in typisch männlich und typisch weiblich klassifizieren, doch scheint es mir nicht von ungefähr, dass diese Szene einer Frau zugeschrieben wird. Veronika ist für uns alle eine Anfrage, wie Leid uns der geschundene und verurteilte Mensch tut. Sie fragt durch ihr Beispiel: Bist auch du bereit, den Kreuzträgern unserer Tage zu begegnen? Oder verschließt du lieber deine Augen vor dem Leid? Hast du den Mut, auch gegen die öffentliche Meinung denen Sympathie zu zeigen, die in den Tod gehetzt werden? Hast Du den Mut, Asylsuchende zu schützen?
Veronika – auch wenn sie erfunden ist – verdient Beachtung. Denn ihr stummes Beispiel redet ins Gewissen – dir, mir und uns allen.
8. Station: Jesus begegnet den weinenden Frauen
Die 8. Kreuzwegstation erinnert an ein Stück lukanischen Sondergutes (23, 27-31). Nach der kurzen Notiz, dass Simon von Zyrene gezwungen wurde, Jesus das Kreuz nachzutragen, findet sich folgender Text: „Es folgte eine große Menschenmenge, darunter auch Frauen, die um ihn klagten und weinten. Jesus wandte sich zu ihnen um und sagte: Ihr Frauen von Jerusalem, weint nicht über mich; weint über euch und eure Kinder! Denn es kommen Tage, da wird man sagen: Wohl den Frauen, die unfruchtbar sind, die nicht geboren und nicht gestillt haben. Dann wird man zu den Bergen sagen: Fallt auf uns!, und zu den Hügeln: Deckt uns zu! Denn wenn das mit dem grünen Holz geschieht, was wird dann erst mit dem dürren werden?“
1. Die Zurückweisung des Mitleids
Erstaunlich finde ich, dass Jesus das Weinen der Frauen nicht recht würdigt; ist das doch ein Zeichen des Mitfühlens und Mitleidens. Wer angesichts eines Menschen, dem körperliches und seelisches Leid zugefügt wird, kein Mitgefühl zeigen würde, den würden wir als hartherzig, abgebrüht und unsensibel bezeichnen. Doch Jesus weist die Geste der Verbundenheit zurück mit den Worten: „Ihr Frauen von Jerusalem; weint nicht über mich, sondern über euch und eure Kinder!“ Warum sollten sie über sich und ihre Kinder weinen? Auf diese Frage gibt der Text keine Antwort. Bibelkommentare sprechen im Hinblick auf die schrecklichen Tage, die kommen werden, vom letzten Gericht oder von der bevorstehenden Zerstörung Jerusalems. Aber alles das ist fromme Deutung und hat kein Fundament im Text. – Vielleicht ist es auch nicht der Sinn einer Kreuzwegstation, bibelkritische Überlegungen anzustellen. Das Bild will Eindrücke vermitteln, mit denen sich der Betrachter und Beter auseinander setzen soll.
2. Missglückte Kommunikation
Persönlich sehe ich in dieser Begegnung eine missglückte Kommunikation. Die Frauen sprechen nicht, aber sie bringen durch ihr Weinen Anteilnahme zum Ausdruck. Noch wichtiger ist, dass sie überhaupt da sind und sich nicht verdrückt haben wie die vielen Freunde, auf die kein Verlass ist. Man könnte auch sagen, die Frauen sind keine Weggucker, die später sagen könnten, sie hätten von nichts gewusst (wie im dritten Reich ja so viele weggeguckt haben und später von dem Pogrom nichts gewusst haben wollen). Auf Seiten der Frauen gibt es Ansätze zur Kommunikation, aber Jesus greift sie nicht auf, sondern würgt sie ab. Ausgerechnet Jesus hat hier den schwarzen Peter, ist hier der Versager. Das macht ihn in meinen Augen nicht unsympathisch, im Gegenteil: er reagiert im Stress genau so falsch, wie wir es oft tun, wenn wir genervt sind. Jesus ist ganz Mensch, kein Supermensch, wie er oft fälschlicherweise dargestellt wird.
3. Verstehen ist Verzeihen (Comprendre c´est pardonner)
Wenn man sich in einen Menschen hinein denkt, sich in seine Situation hinein versetzt, wenn man um Verständnis bemüht ist, dann begreift man oft, warum er so und nicht anders handelt. Der Franzose hat dafür ein einen weisen Spruch (s. o.). Ich finde es gut, dass die Bibel auch solche Situationen von Jesus berichtet, wo man lange nachdenken muss, warum er so (wie wir meinen: falsch) und nicht anders (wie wir meinen: richtig) reagiert hat. Das macht ihn als Menschen sympathisch, und schadet seinem göttlichen Ruf keineswegs.
10. Station: Jesus wird seiner Kleider beraubt
Dass Jesus seiner Kleidung beraubt worden wäre, steht so nicht in der Bibel. Wohl aber steht in allen vier Evangelien, dass nach der Kreuzigung Jesu seine Kleidungsstücke per Losentscheid aufgeteilt wurden. Die Kreuzwegstation rückt den Moment in den Blick, da Jesus entkleidet wird. Einen Menschen entkleiden, ihn bloßstellen heißt: seine Intimsphäre beschädigen. Für den Betrachter stellen sich Assoziationen ein:
1. Assoziation: Sexueller Missbrauch von Kindern in der Kirche
Ein Skandal von ungeahntem Ausmaß kommt ans Tageslicht: der sexuelle Missbrauch von Kindern durch Priester (oder andere Bedienstete) in der Kirche. Wie mag es in Kindern aussehen, die missbraucht wurden - , missbraucht von Priestern, denen sie vertrauten, vor denen sie zuvor ihr Herz ausgeschüttet hatten: ihre großen und kleinen Sorgen, ihre Verfehlungen (in der immer aufregenden Beichte), ihre guten Vorsätze, ihre seelischen Schmerzen und Verletzungen. Und dann plötzlich der zerstörerische Zugriff der Vertrauensperson aus unbeherrschter sexueller Gier. Wer kann die seelischen Schäden, die missbrauchte Kinder genommen haben, wirklich ermessen?
2. Assoziation: Zölibat und unterdrückte Sexualität
Man fragt sich natürlich, ob der Pflichtzölibat daran Schuld ist, wenn Priester pädophil ausflippen. Natürlich nicht, meint der Papst und mit ihm seine Hoftheologen, und fast alle Bischöfe auf der Welt schwätzen es ihnen nach. (Anders würden sie ja ihre eigene Lebensform in Frage stellen.) Etwas differenzierter sieht das Bischof Robinson, emeritierter Weihbischof in Sydney. Er leitete viele Jahre die Missbrauchskommission der australischen Bischofskonferenz. Bischof Robinson glaubt zwar nicht, dass der Zölibat die einzige Ursache für sexuellen Missbrauch sei, widerspricht aber jenen, die behaupten, er habe damit gar nichts zu tun. Päpstlichen Erklärungen, dass das Zölibatsgesetz auf keinen Fall überprüft, in Frage gestellt oder geändert werden könnte, begegnet er mit der pointierten Frage: „Wie viele missbrauchte Kinder ist uns der Zölibat wert?“
3. Assoziation: Das Ansehen der heiligen Kirche
Wer an die Heiligkeit der Kirche glaubt, möchte sie immer in strahlendem Glanz sehen. Und da alle Bischöfe an die Heiligkeit der Kirche glauben, haben sie vertuscht, was den Glanz hätte trüben können. Pädophilie bei Priestern trübt den Glanz der Kirche, also wurde sie verschwiegen. Und den Opfern wurde unter Androhung der Exkommunikation eingeschärft, ihr Leben lang nicht darüber zu sprechen. Gott sei Dank hat sich das jetzt geändert. Wir verdanken diese Wende nicht nur mutigen Männern und Frauen in der Kirche, sondern auch dem Druck, der von außen auf die Kirche ausgeübt wurde. Die Presse hat da eine entscheidende Rolle gespielt.
Ob die Wende wirklich ernst gemeint ist, bleibt abzuwarten. Es werden immer wieder Stimmen laut, die in der geforderten Aufklärung der Missbrauchsfälle schlicht eine Campagne gegen die Kirche sehen. So hatte der Papst am Palmsonntag (2010) den Menschen zugerufen, „sich vom Geschwätz der vorherrschenden Meinung nicht einschüchtern zu lassen“, und L´Osservatore Romano bewertete die Vorgänge als „grobe Propaganda gegen den Papst und die Katholiken“. Und Kardinal Angelo Sodano, der Dekan des Kardinalskollegiums, sagte in der Ostermesse: „Heiliger Vater, das Volk Gottes ist mit Dir und wird sich nicht von dem unbedeutenden Geschwätz dieser Tage beeinflussen lassen“. – So wird im Missbrauch der Kinder die Schändung des Gottessohnes in der Kirche klein geredet.
11. Station: Jesus wird ans Kreuz genagelt.
Zwar spricht die Bibel in allen Evangelien davon, dass Jesus gekreuzigt wurde, doch will die fromme Betrachtung wissen, dass die Hände und Füße Jesu mit Nägeln am Holz des Kreuzes befestigt wurden. Es geht hier nicht um historische Genauigkeit, hier soll die Aufmerksamkeit des Betrachters gebunden werden.
Folter pur.
Es ist die grausamste Station des ganzen Kreuzwegs: Jesus wird gefoltert. Folter wurde und wird zum Teil heute noch dann angewendet, wenn ein Geständnis oder ein Widerruf erpresst oder ein Widerstand gebrochen werden soll. Doch selbst diese Zwecke spielen im Fall Jesu keine Rolle mehr; denn das Urteil ist längst gesprochen. Jesus leistet keinen Widerstand. Das Quälen wird zum Selbstzweck. So grausam uns das heute erscheint, so wenig dürfen wir vergessen, dass Folter bis noch ins 18. und 19. Jahrhundert bei uns legitimes Mittel war, ein Schuldgeständnis zu erpressen. Die heilige römische Kirche hat in der Inquisition reichlich Gebrauch davon gemacht. – Wer meint, das Thema Folter wäre heute erledigt, der braucht nur die Presse aufmerksam zu verfolgen, um zu erfahren, wie viel Folter es heute noch gibt, selbst in unseren zivilisierten Breiten. Die Lust, an einem anderen Menschen Schmerzen verursachende Gewalt anzuwenden, ist in jeder Psyche tief verankert.
Kein Widerstand.
Jesus wehrt sich nicht. Widerstand oder gar Gegenwehr sind ihm fremd. Nicht aus Resignation, sondern aus Überzeugung leistet er keinen Widerstand. Gewalt, der kein Widerstand entgegengesetzt wird, verliert ihre Kraft. Das ist das Geheimnis Jesu im Umgang mit der Gewalt. Zwar verliert Jesus sein Leben, doch zugleich bricht er die Spirale der Gewalt auf, weil er sie in Leere laufen lässt. – Es ist schwer, einen solchen Lebensentwurf zu verinnerlichen oder gar zum eigenen zu machen. Als beschämend empfinde ich übrigens, dass in diesem Augenblick Jesu Freunde (Apostel, Jünger oder andere Sympathisanten) alle abwesend sind und sich so die Auseinandersetzung mit den Fragen der Folter und brutaler Gewalt entziehen.
12. Station: Jesus stirbt am Kreuz
Die Kreuzwegstation heißt zwar „Jesus stirbt am Kreuz“, doch das Bild zeigt den am Kreuz Gestorbenen, den Toten also. Christen bringen entsprechend das Kreuz immer mit dem Tod in Verbindung, weniger mit dem Sterben. Kreuze erinnern an den Tod: auf dem Friedhof, am Straßenrand, in Todesanzeigen und bei vielen anderen Gelegenheiten. Das Kreuz ist sogar Symbol für die ganze Religion und verweist so darauf, dass Tod und Sterben in dieser Religion eine bedeutende Rolle spielen. Gemeinhin wird das Kreuz in der Wohnung, in den Klassenzimmern der Schule oder in anderen öffentlichen Gebäuden als stummes Glaubenbekenntnis oder zumindest als Bekenntnis zur christlich-abendländischen Tradition gewertet. Doch gibt es Bestrebungen, dieses Symbol aus dem öffentlichen Raum zu entfernen, weil es den Nicht- und Andersgläubigen unbewusst vereinnahmen könnte. Darüber wird in der Gesellschaft noch viel diskutiert werden müssen.
Der Ort, wo das Kreuz seinen legitimen Platz hat, ist der Kirchenraum. Ich liebe wirklich künstlerische Kreuzesdarstellungen, am meisten die, die Tod und Auferstehung nicht miteinander verquicken. Denn wer vorschnell mit der Auferstehung tröstet, nimmt dem Kreuz seine Würde. Das Kreuz ist immer Anfrage nach dem Sinn des Lebens im Angesicht des Todes. Ich halte es für einen Missbrauch des Kreuzes, wenn man es klein redet mit schwülstigen eschatologischen Vorstellungen, die kein Mensch kontrollieren kann. Nicht alles, was fromm daher kommt, ist deshalb schon Glaube.
Ein Beispiel von Kreuzesmissbrauch, das mich in jeder Passionszeit erneut ärgert, ist folgendes: Da wird in katholischen Kirchen spätestens am Gründonnerstag, dem Tag der Einsetzung der Eucharistie, ein Kreuz mit einer Priesterstola „geschmückt“, d. h. es wird dem Gekreuzigten eine Stola umgehängt. Man möchte damit zum Ausdruck bringen, dass Jesus an diesem Tag das Priesteramt, so wie wir es in unserer Kirche heute verstehen, eingesetzt hat. Zunächst ist es eine Beleidigung eines wirklichen Kunstwerkes, wenn man es mit einem Stofffetzen entstellt. Außerdem ist es eine theologische Anmaßung zu behaupten, dass dieser Gekreuzigte das Priesteramt (das Weihesakrament) in der heute praktizierten Form eingesetzt hätte. In Wirklichkeit ist es umgekehrt: Man hängt ihm buchstäblich unser Amtsverständnis an. Er, der Gekreuzigte, der Tote am Kreuz, kann sich dagegen ja nicht wehren. – Jeder der seine Theologie studiert hat, weiß, dass sich das Amt und sein Verständnis im Laufe der Geschichte unserer Kirche entwickelt hat und das zu Recht. Aber eingesetzt hat Jesus dieses Amt in dieser Form nicht. Ich sagte bereits: nicht alles, was fromm daher kommt, hat auch schon eine Legitimation im Glauben. Solcher Missbrauch des Kreuzes in der Kirche ist schlimmer als die Ablehnung der Kreuze im öffentlichen Raum durch Nicht- oder Andersgläubige.
Das Kreuz und der daran Gekreuzigte stellen den Betrachter bzw. die Betrachterin vor die Frage, ob er oder sie zu dieser Liebe bis in den Tod selber auch bereit und fähig sind. Die Frage kann man nicht mit Ja oder Nein beantworten, sondern die Antwort wird das Leben sein.
13. Station: Jesus wird vom Kreuz abgenommen und in den Schoß seiner Mutter gelegt
Die Szene, die in dieser Station dargestellt wird, ergibt sich aus der Kreuzabnahme Jesu, die in der Bibel erwähnt wird. Der tote Sohn im Schoß der Mutter wird nicht eigens erwähnt. Skulpturen dieser Art, bekannt als Vesperbilder, sind häufig an Wallfahrtsorten zu finden. Dort pilgern die Menschen hin, um zu sehen und zu beten.
Ein leidvolles Bild voller Trost
Was sieht man da? Eine ledige Mutter, die ihren einzigen Sohn, der getötet wurde, hergeben muss. Was sie der Welt geschenkt und anvertraut hatte, wurde zurückgewiesen und vernichtet. So sitzt sie da mit den Trümmern ihres Lebenswerkes auf dem Schoß. Warum soll sie noch weiter leben? Wozu ist sie noch nütze? Was soll sie noch in dieser Welt? Ein Bild des totalen Zusammenbruchs dessen, was man Lebenssinn nennt.
Doch wer genau hinsieht, stellt fest, dass die meisten Vesperbilder nicht Verzweiflung, sondern Ruhe, Geborgenheit und Trost ausstrahlen. Das Gesicht Mariens ist nicht schmerzverzerrt, nicht von Verzweiflung geprägt, sondern ernst, ruhig, erhaben. Als wüsste sie ihre gegenwärtige Erfahrung mit der verborgenen Sinngebung durch Gott zusammen zu bringen, hält sie den Schmerz aus, wird sie gehalten von einer Hoffnung wider die Hoffnung. So sind die meisten Vesperbilder trotz der Darstellung des Leids Bilder des Trostes.
Was die Menschen brauchen
Die Menschen lieben diese Bilder. Mit dieser Frau kann man sich identifizieren. Es kommen Mütter, die ihre Söhne im Krieg verloren haben und teilen ihre Einsamkeit mit dieser Frau. Oder Eltern, die ein krebskrankes Kind hergeben mussten oder einen Sohn, der dem Straßenverkehr zum Opfer fiel. Da gibt es Eltern, die ihr einziges Kind an die Drogenszene verloren glauben und es nicht wahrhaben wollen. Sie stellen eine Kerze auf als verzweifelten Versuch, das Unabwendbare doch noch zu verhindern, oder einfach als Zeichen der Solidarität mit dieser Frau der Schmerzen.
Gewiss, keiner kann einen Toten lebendigbeten, keiner kann allein durch sein Gebet den Lauf der Dinge ändern, aber man kann vor diesem Bild Kraft schöpfen, die zum Leben, zum Weiterleben ermutigt. Man kann so viel Trost erfahren, dass sich die Lebensperspektiven neu ordnen. Die Hoffnung wider alle Hoffnung soll auf den Beter überspringen und ihn innerlich verwandeln. Jedes Opferlicht vor einer solchen Pieta ist ein Sinnbild der Hoffnung, angezündet von Betern, die um Mut und Kraft ringen oder sich für erfahrenen Trost bedanken.
14. Station: Der Leichnam Jesu wird ins Grab gelegt
Einen Toten zu begraben, gilt nach alter Frömmigkeit als Werk der Barmherzigkeit. Die Bibel kennt den Namen dessen, der an Jesus dieses Werk der Barmherzigkeit getan hat: Josef von Arimathäa. Er war Mitglied des Hohen Rates, in diesem Gremium sogar ein angesehener Mann. Das Johannesevangelium nennt ihn einen Jünger Jesu, „aber aus Furcht vor den Juden nur heimlich“.
Aus Angst zwischen den Fronten
Wer war Josef von Arimathäa? Er war ein Mann zwischen den Fronten, und zwar aus Angst. Als Mitglied des Hohen Rates war er für die Durchführung der Religionsgesetze mitverantwortlich, er war ein Richter in profanen und religiösen Angelegenheiten. Lukas sagt ausdrücklich, dass er dem, was die anderen beschlossen, nicht zugestimmt hatte, „weil er gut und gerecht war“. Johannes betont wohl mehr die Unsicherheit und Angst, wenn er von Josefs heimlicher Jüngerschaft spricht. Zum offenen Bekenntnis hatte ihm wohl der Mut gefehlt. Es hätte ja seinem Ansehen schaden, wenn nicht Kopf und Kragen kosten können. – Wie soll man seine Haltung bewerten? Taktische Klugheit? Feige Mittelmäßigkeit? Privates Gespür für das Reich Gottes, ohne öffentlich davon Aufsehens zu machen? Wir mögen es wenden wie wir wollen: seine Angst verbietet uns, ihn einen Helden zu nennen, seine Sympathie zu Jesus bewahrt ihn davor, als Verräter verdächtigt zu werden. Ein Mann zwischen den Fronten.
Das Begräbnis als Wende
Mut zeigt Josef von Arimathäa nach dem Tode Jesu. Als alles überstanden ist – aber auch nichts mehr zu retten, bittet Josef den Pilatus um die Überlassung des Leichnams Jesu zur Bestattung. Mit dem Tode Jesu, des Gerechten, ist offenbar auch in Josef von Arimathäa etwas gestorben, vielleicht seine Angst. Lange vorher hatte er sein eigenes Begräbnis vorbereitet, indem er seine Grabstätte in einen Felsen hatte hauen lassen. Ob er sich immer schon innerlich darüber im Klaren war, dass etwas in ihm sterben musste, damit er wirklich leben könne? So deutet alles darauf hin, dass das Begräbnis Jesu für Josef von Arimathäa eine Lebenswende bedeutete. Berichtet wird uns nachher nichts mehr von ihm, aber das ist nicht entscheidend.
Ich, Josef von Arimathäa
Josef von Arimathäa ist kein Held, Gott weiß nicht. Aber er ist für uns vielleicht eine Identifikationsfigur. Wenn ich sage: ich bin Josef von Arimathäa, dann identifiziere ich seine Angst als meine Angst, aber auch seine Sympathie zu Jesus als meine; dann sehe ich mich – wie er – um Ansehen und guten Ruf bemüht und gleichzeitig als Jünger Jesu – im Geheimen; dann bin ich – wie er – mutig, wenn es nichts kostet, und feige, wo es ums Überleben geht.
Glaube ich daran, dass es eines Tages eine Wende gibt in meinem Leben? Von der Feigheit zum Mut? Von der Angst zum öffentlichen Bekennen? Von der heimlichen Verehrung zur öffentlichen Liebe? Vom Tod zum wirklichen Leben? – Josef von Arimathäa ist der Mensch des Karsamstags. Er hat den Tod Jesu und teilweise sein eigenes Sterben erlebt und durchlebt. Was nun kommen kann, ist der Einbruch des Lebens: Auferstehung. Werden wir sie in unserem Leben zulassen?